Kassandra Verschwörung
der Zeit um und musterte die anderen Gäste. Sämtliche Tische waren besetzt. Auf ihrem Tisch hatte kein Reservierungsschild gestanden, und sie hatte dem Kellner gegenüber nichts von einer Reservierung erwähnt, aber er fragte sich trotzdem …
Schließlich legte sie die Speisekarte weg. »Essen Sie Fleisch?«, fragte sie.
»Ja.«
»Gut, hier in Frankreich sind wir noch ein bisschen … rezidiv, was Vegetarismus angeht.«
»Rezidiv?«
Sie sah ihn entsetzt an. »Ist das etwa nicht das richtige Wort?«
Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, erwiderte er. »Offenbar ist nicht nur Ihr Französisch besser als meins, ich beginne mich allmählich zu fragen, ob Ihr Englisch vielleicht auch besser ist.«
Diese Bemerkung schien sie enorm aufzumuntern. Sie straffte sich und bedachte Barclay mit einem weiteren Lächeln.
»Dafür bestelle ich die zweit billigste Flasche Wein statt der billigsten«, sagte sie.
»Ihr Arbeitgeber ist sehr großzügig.«
»Nein, er denkt einfach nur sehr nüchtern, wie Geheimdienste auf der ganzen Welt. Mögen Sie Thomas Pynchon?«
»Ich verstehe Thomas Pynchon nicht einmal.«
Barclay rief sich in Erinnerung, dass er, wenn er auch sonst nichts zu bieten hatte, zumindest sehr charmant sein konnte. Sie lächelte immer noch. Er dachte, dass sein Charme es ihr vielleicht angetan hatte.
»Haben Sie je Conan Doyle gelesen?«
»Was? Sherlock Holmes? Nein, aber ich habe die Filme gesehen.«
»Die Bücher, die Geschichten, sind völlig anders als die Filme. Sherlock Holmes verfügt über eine unglaubliche Fähigkeit, schlussfolgernd zu denken. Er kann jeden Fall allein durch schlussfolgerndes Denken lösen. In gewisser Weise hat Mr. Conan Doyle recht.« Sie hielt inne; ihr war plötzlich etwas eingefallen. »Dieser Mr. Doyle von der Special Branch – kennen Sie ihn? Ist er womöglich mit Conan Doyle verwandt?«
»Ich kenne ihn nicht, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass sie verwandt sind.«
Sie nickte, schien aber trotzdem enttäuscht. »Wissen Sie«, sagte sie, »Mr. Conan Doyle war nicht nur an schlussfolgerndem Denken interessiert, er war auch ein glühender Anhänger des Spiritismus.«
»Tatsächlich?«, entgegnete Barclay, da ihm keine bessere Antwort einfiel. Er konnte nicht erkennen, wohin das alles führen sollte.
»Ja«, bestätigte sie, »tatsächlich. Ich finde das bemerkenswert.«
»Das ist es vielleicht auch ein bisschen.«
Der Kellner war mit Block und gezücktem Stift an ihren Tisch getreten. Nach Barclays Empfinden schien die Bestellung des Essens ziemlich vieler Worte zu bedürfen. Es gab lange Diskussionen, Zurücknahmen bereits georderter Bestellungen und Umentscheidungen. Zwischendurch bedachten sowohl Dominique als auch der Kellner ihn immer wieder mit Blicken und einmal sogar mit einem konspirativen Lächeln. Schließlich verbeugte sich der Kellner, nahm mit übertriebener Höflichkeit Barclays unbenutzte Speisekarte und zog sich zurück. Eine Kellnerin erschien mit zwei Gläsern Kir.
»Prost«, sagte Dominique und hob ihr Glas.
» Santé «, erwiderte Barclay. Er nahm einen Schluck, machte genüsslich Ah! und stellte das Glas wieder ab. Ein Korb Brot wurde ihnen gebracht, diesmal wieder vom ersten Kellner. An einem Tisch in ihrer Nähe servierte man gerade etwas Brutzelndes. Die Gäste an den anderen Tischen bedachten die Speise ungeniert mit gierigen Blicken und tauschten anschließend Kommentare über die Qualität des Gerichts aus. Als Barclay seinen Blick wieder Dominique zuwandte, starrte sie ihn über den Rand ihres hohen Glases hinweg unverhohlen an.
»Also«, sagte er und verlagerte ein wenig sein Gewicht, »was wollten Sie mir über Conan Doyle erzählen?«
»Nicht über Conan Doyle, sondern über Sherlock Holmes. Schlussfolgerndes Denken. Darauf wollte ich hinaus. Wir sollten das Ganze von hinten aufrollen, uns Fragen stellen und aufgrund von Wahrscheinlichkeiten zu Schlussfolgerungen kommen. Stimmen Sie mir zu?«
Unorthodox denken, jeder Idee bis zum Ende nachgehen... so hatte Dominic Elder es ausgedrückt. Barclay nickte. »Was würden Sie also tun?«
Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Killer um eine Frau handelt, richtig?«
»Richtig.«
»Gut, fragen wir uns also zunächst: Wie ist sie nach Calais gekommen?«
»Mit dem Zug oder auf der Straße.«
»Richtig. Was ist wahrscheinlicher? Die Straße. Vielleicht ist sie aus Paris gekommen. Aber Züge sind sehr
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