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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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spiegelglattem Wasser in der Bucht von Nauplion angelegt hatten und die Sonne, prall und schwer von Blut, hinter dem Bergzug versank; als meine Troerinnen, so als wären sie erst jetzt, beim Betreten des fremden Landes, wirklich in Gefangenschaft gekommen, Trost in trostlosem Weinen suchten; in den Tagen danach, auf dem staubigen, heißen, mühevollen Weg durch die Festung Tiryns und den schmutzigen Flecken Argos, empfangen und begleitet von den Schmähreden der zusammenlaufenden Greise und Frauen; besonders aber auf der letzten ansteigenden Strecke durch dürres Land, über welchem unheilvoll, aber immer noch weit entfernt dieser schreckliche Steinhaufen auftauchte, Mykenae, die Burg, unser Ziel; als sogar Marpessa aufstöhnte; als, merkwürdig genug, der König selbst, der unentschlossene Agamemnon, anstatt zur Eile zu treiben, eine Rast nach der anderen anordnete und sich jedesmal schweigend,Wein trinkend und mir Wein anbietend, in den Schatten eines Olivenbaumes zu mir setzte, woran niemand aus seinem Gefolge Anstoß nahm (Olive,zärtlichster Baum …); als mein Herz, das ich lange nicht mehr gespürt hatte, von Station zu Station kleiner, fester, härter wurde, ein schmerzender Stein, dem ich nichts mehr abpressen konnte: da war der Vorsatz fertig, geschmolzen, ausgeglüht, gehämmert und geformt wie eine Lanze. Ich will Zeugin bleiben, auch wenn es keinen einzigen Menschen mehr geben wird, der mir mein Zeugnis abverlangt.
    Und ich wollte es mir nicht erlauben, über diesen Vorsatz nochmals nachzudenken. Doch ist er nicht ein Hilfsmittel von der Art, die Übleres bewirkt als das Übel, gegen das man sie verwenden will? Hat es nicht jetzt schon, dies probate Mittel, mein altes, schon vergeßnes Übel wieder wahrgemacht: daß ich, gespalten in mir selbst, mir selber zuseh, mich sitzen seh auf diesem verfluchten Griechenwagen, unter meinem Tuch, von Angst geschüttelt. Werd ich, um mich nicht vor Angst zu winden, um nicht zu brüllen wie ein Tier – wer, wenn nicht ich, sollt das Gebrüll der Opfertiere kennen! – werd ich denn bis zuletzt, bis jenes Beil. – Werd ich denn noch, wenn schon mein Kopf, mein Hals – werd ich um des Bewußtseins willen bis zuletzt mich selber spalten, eh das Beil mich spaltet, werd ich –
    Warum will ich mir diesen Rückfall in die Kreatur bloß nicht gestatten. Was hält mich denn. Wer sieht mich noch. Bin ich, die Ungläubige, denn immer noch im Mittelpunkt der Blicke eines Gottes, wie als Kind, als Mädchen, Priesterin? Gibt sich das nie.
    Wohin ich blicke oder denke, kein Gott, kein Urteil, nur ich selbst. Wer macht mein Urteil über mich bis in den Tod, bis über ihn hinaus, so streng.
    Wär auch das vorgegeben. Liefe auch das anSchnüren, die nicht in meinen Händen liegen, wie die Bewegungen des Mädchens, das ich war, Wunsch- und Sehnsuchtsbild, die junge helle Gestalt im lichten Gelände, heiter, freimütig, hoffnungsvoll, sich selbst und anderen vertrauend, verdienend, was man ihr zuerkannte, frei, ach, frei. In Wirklichkeit: gefesselt. Gelenkt, geleitet und zum Ziel gestoßen, das andre setzen. Demütigend (ein Wort aus früheren Tagen): Alle wußten es. Auch Panthoos. Panthoos der Grieche war eingeweiht. Ohne mit der Wimper zu zucken überreichte er derjenigen Stab und Stirnbinde, die Hekabe ihm bezeichnete. So glaubte er nicht, daß ich von Apollon geträumt hatte? Aber doch. Dochdoch, kleine Kassandra. Das Dumme war: Er glaubte nicht an Träume.
    Endlich! rief er an dem Tag, an dem ich ruhig sagte, Troia werde untergehn, und keinen Traum dafür als Beweis anführte. Er teilte mein Wissen, aber es ging ihn nichts an. Er, der Grieche, bangte nicht um Troia, nur um sein Leben. Dies fand er, hatte sowieso genug gedauert. Das Mittel, es zu beenden, trug er lange schon bei sich. Und wendete es nicht an. Starb qualvoll, um einen Tag länger zu leben. Panthoos. Ganz haben wir ihn wohl nie gekannt.
    Auch Parthena die Amme wußte natürlich, was gespielt wurde. Wie meine Wahl zur Priesterin zustande kam. Durch sie wußte es Marpessa. Aber sie ist es ja gewesen – wie lange hab ich daran nicht gedacht –, die mir den Schlüssel für meinen Traum und für mein Leben in die Hand gab. Wenn Apollon dir in den Mund spuckt, sagte sie mir feierlich, bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben.
    Die Sehergabe. Das war sie. Ein heißer Schreck. Ich hatte sie mir erträumt. Mir glauben – nicht mir glauben – man würde sehn. Unmöglich

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