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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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sie tat, ganz offen tat, viel später mir beteuern sollen, nie, niemals sei Aineias je bei dir gewesen, wenn der Schatten, den ich aus deiner Türe schleichen sah, des Aineias Schattenriß gewesen wäre? Wie töricht war ich doch. Wie hätte es Aineias sein können, der, von einer Frau kommend, einer andern an die Brust greift, und dann floh!
    Ach Polyxena. Wie du dich bewegtest. Hurtig undheftig, zugleich anmutig. Wie eine Priesterin sich nicht bewegen soll. – Warum denn nicht! sagte Panthoos, und er kehrte sein tiefer gegründetes Wissen über das Wesen seines Gottes Apollon heraus, dem er schließlich in seinem zentralen Heiligtum, in Delphi auf dem griechischen Festland, gedient hatte. Warum nicht anmutig, kleine Kassandra? Apollon ist auch der Gott der Musen, nicht wahr. – Er wußte mich zu beleidigen, der Grieche. Er konnte durchblicken lassen, daß er die roheren Umrisse, die wir kleinasiatischen Völker seinem Gotte gaben, recht eigentlich für barbarisch hielt.
    Was nicht bedeutete, daß er mich zur Priesterin nicht geeignet fand. Zweifellos, sagte er, gebe es Züge in meinem Wesen, die der Priesterschaft entgegenkämen. Welche? Nun – mein Wunsch, auf Menschen Einfluß auszuüben; wie anders sollte eine Frau sonst herrschen können? Ferner: mein inbrünstiges Verlangen, mich mit der Gottheit auf vertrauten Fuß zu stellen. Und, natürlich, meine Abneigung gegen die Annäherung irdischer Männer.
    Panthoos der Grieche tat, als kenne er die Wunde in meinem Herzen nicht; als mache es ihm nichts aus, in dies Herz eine mir selbst fast nicht bewußte, sehr feine, sehr geheime Feindschaft gegen ihn, den Ersten Priester, einzupflanzen. Mein Griechisch hab ich ja bei ihm gelernt. Und die Kunst, einen Mann zu empfangen, auch. In einer der Nächte, da die frisch geweihte Priesterin beim Götterbild zu wachen hatte, ist er zu mir gekommen. Geschickt, fast ohne mir weh zu tun und beinah liebevoll tat er, wozu Aineias, an den ich dachte, nicht willens oder nicht fähig gewesen war. Daß ich unberührt war, schien ihn nicht zu überraschen, auchnicht, in welchem Maß ich körperlichen Schmerz zu fürchten schien. Zu niemandem, auch nicht zu mir, verlor er je ein Wort über jene Nacht. Ich aber wußte nicht, wie ich Haß und Dankbarkeit gegen ein und denselben Menschen mit mir herumtragen sollte.
    Meine Erinnerung an jene Zeit ist blaß, ich hatte keine Gefühle. Polyxena sprach ein ganzes Jahr lang kein Wort mit mir. Priamos bereitete den Krieg vor. Ich hielt mich zurück. Ich spielte die Priesterin. Ich dachte, Erwachsensein bestehe aus diesem Spiel: sich selbst verlieren. Enttäuschung ließ ich nicht zu. Ich erlaubte mir nicht den mindesten Fehler, wenn ich die Prozession der Mädchen zur Statue des Gottes anführte – ich wurde, wie ich es erwartet hatte, zur Chorführerin ausgebildet; alles gelang mir. Hatte ich zuerst Strafe befürchtet, wenn mir beim Gebet anstelle der göttlichen Lichtgestalt mit der Leier ein Wolf oder gar eine Schar Mäuse vor die Augen kamen, fand ich bald heraus, daß rein gar nichts geschah, wenn ich mich lustvoll meinen Erscheinungen überließ. Auch wenn Panthoos zu mir kam, mußte ich, um aus Ekel Lust zu machen, den andern Mann, Aineias, vor mir sehen. Getragen von der Achtung der Troer, lebte ich scheinhaft wie nie. Ich weiß noch, wie mein Leben mir entwich. Ich schaff es nicht, dachte ich oft, wenn ich, auf der Stadtmauer sitzend, blicklos vor mich hinstarrte, aber ich konnte mich nicht fragen, was mein leichtes Dasein derart überanstrengte.
    Ich sah nichts. Mit der Sehergabe überfordert, war ich blind. Sah nur, was da war, so gut wie nichts. Durch den Jahreslauf des Gottes und die Forderungen des Palastes wurde mein Leben bestimmt. Man könnte auchsagen: erdrückt. Ich kannte es nicht anders. Lebte von Ereignis zu Ereignis, die, angeblich, die Geschichte des Königshauses ausmachten. Ereignisse, die süchtig machen, auf immer neue Ereignisse, zuletzt auf Krieg.
    Ich glaube, das war das erste, was ich durchschaute.
    Gerüchte über das ZWEITE SCHIFF drangen spät zu mir. Ich hatte mich, bitteren Herzens verzichtend, aus dem großen Kreis der Brüder und Schwestern, ihrer Freunde und jugendlichen Sklaven entfernt, in dem abends flüsternd oder laut beredet, bespöttelt und kritisiert wurde, was tagsüber im Rat beschlossen worden war. Verboten war es mir nicht, an meinen freien Abenden das alte lässige Leben fortzusetzen, unter Bäumen und Gebüsch in den Innenhöfen der

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