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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Zitadelle herumzuhocken, mich den gewohnten und geliebten Lauten durch offene Tonröhren plätschernden Wassers zu überlassen, mich der Stunde hinzugeben, in der der Himmel vergilbt und die Häuser das Licht des Tages, das sie aufgesogen haben, wieder ausstrahlen; das ewig gleiche Gemurmel, Gewisper und Geschwätz der Geschwister, Erzieher, Ammen und Haussklaven an mir vorbeigehn zu lassen. Ich verbot es mir selbst, nachdem ich Priesterin war; nachdem doch gewiß Polyxena mich bei den Geschwistern angeschwärzt hatte – woran sie nicht im Traum gedacht hat, das mußte ich ihr später glauben; nachdem diejenigen meiner müßigen Schwestern und Brüder, denen Klatsch und Familienzwist gelegen kam, gewiß weidlich über mich hergezogen waren: Bevorzugt vor ihnen wollte ich sein, doch ihren Neid ertrug ich nicht.
    Dies alles, das Troia meiner Kindheit, existiert nur noch in meinem Kopf. Da will ich es, solang ich Zeithab, wieder aufbaun, will keinen Stein vergessen, keinen Lichteinfall, kein Gelächter, keinen Schrei. Treulich, wie kurz die Zeit auch sein mag, soll es in mir aufgehoben sein. Jetzt kann ich sehen, was nicht ist, wie schwer hab ichs gelernt.
    Helenos. Ach Helenos, andersgearteter Gleichaussehender. Mein Ebenbild – wär ich ein Mann geworden. Wär ichs doch! dacht ich verzweifelt, als sie dich – nicht mich! nicht mich! – zum Orakelsprecher machten. Ach sei froh, Schwester. Augur sein – was für ein undankbares Geschäft. Na, er werde sich pünktlichst an die Anweisungen des Kalchas halten. Helenos war kein Seher. Er hatte die Gabe nicht, er brauchte das Ritual. Aller Leichtsinn, der vielleicht uns beiden zugedacht gewesen, war auf ihn gekommen. Alle Schwermut lag auf mir. Wie ich mich an seine Stelle wünschte. Was war die Priesterin gegen den Augur! Wie ich ihm gierig zusah, wenn er sich die Frauenkleider anzog, um am Opferstein des Tieres Eingeweide zu beschaun. Wie er seinen Ekel herunterwürgte vor dem Blutgeruch, vor den dampfenden Innereien, an die ich, von früh auf gehalten, kleinere Tiere für die Küche auszunehmen, ganz und gar gewöhnt war. Wäre ich er. Könnt ich mein Geschlecht gegen das seine tauschen. Könnt ich es verleugnen, verbergen. Ja wirklich, so empfand ich. Ich, die ich kaum auf Därme, Leber, Magen des jungen Stieres sah, ich blickte auf die erregten aufgerissenen Gesichter der Menschen, die das Opfer und den Priester dicht umstanden und auf ein Wort warteten wie auf Speise und Trank. Lahme konventionelle Verlautbarungen gab der Bruder ab, über Sonne und Regen, Gedeihen und Mißlingen der Ernte, Vieh- und Kinderaufzucht. Wie andershätte ich reden, mit welch andrer Tonart dreinfahren wollen; über ganz ganz andres hätte ich sie belehren mögen, die Ahnungslosen, Genügsamen; nämlich … Nämlich? Worüber denn? Panthoos, der mich in jener Zeit im Auge behielt, fragte mich rundheraus. Immer seine kratzenden Fragen. Was sonst als Wetter, Bodenfruchtbarkeit, Viehseuchen, Krankheiten – wollte ich die Leute aus dem Kreis herausreißen, in den sie eingeflochten seien? In dem sie sich wohl fühlten, nach nichts anderem Ausschau hielten? Darauf ich, hochfahrend: Weil sie nichts andres kennen. Weil man ihnen nur diese Art Fragen läßt.
    Wer – man? Die Götter? Die Verhältnisse? Der König? Und wer bist du, ihnen andre Fragen aufzudrängen. Laß alles, wie es ist, Kassandra, ich rate dir gut. Wenn er länger nachts nicht zu mir kam, entbehrte ich ihn sehr. Nicht ihn, »es«. Und wenn er auf mir lag – Aineias, nur Aineias. Das war selbstverständlich. Mochte der Grieche, der vieles merkte, weil er kühl blieb, dieses auch durchschaun, es war mir gleich. Doch das Mittel gibt es nicht zwischen Himmel und Erde, das mich hätte zwingen können, mein Geheimnis preiszugeben. Mein Neid auf Helenos hörte auf, wie alles aufhört, wann, weiß ich nicht. Mein Eifer, den Menschen neue Fragen einzugeben, ließ nach, ist ganz geschwunden. Mein Geheimnis habe ich behalten. Es gibt Geheimnisse, die einen Menschen auszehren, andre, die ihn fester machen. Dies war eins von der üblen Sorte, wer weiß, wozu es mich getrieben hätte, wäre nicht eines Tags Aineias wirklich da gewesen.
    Was sagen die Mykenerinnen, die sich um mich drängen? Sie lächelt. Ich soll lächeln? Weiß ich dennüberhaupt noch, was das ist, lächeln? Das letztemal hab ich gelächelt, als Aineias – seinen Vater, den alten Anchises, auf dem Buckel – mit seiner Handvoll Leute an mir vorbeizog, in Richtung

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