Kassandra
tanzend huldigte. Sklavinnen aus dem Palast sah ich unter ihnen, Frauen aus den Ansiedlungen jenseits der Mauern der Zitadelle, auch Parthena die Amme, die vor dem Eingang der Höhle unter der Weide hockte, deren Wurzeln wie das Schamhaar einer Frau in die Höhlenöffnung hineinfielen, und mit den Bewegungen ihres massigen Körpers den Zug der Tänzerinnen zu dirigieren schien. Marpessa glitt in den Kreis, der meine Ankunft nicht einmal bemerkte – eine neue, eigentlich verletzende Erfahrung für mich –, der sein Tempo allmählich steigerte, seinen Rhythmus verstärkte, schneller,fordernder, ungestümer wurde, einzelne Tänzerinnen aus dem Kreis schleuderte, auch Marpessa, meine beherrschte Marpessa! – sie zu Gesten trieb, die mein Schamgefühl verletzten, bis sie außer sich gerieten, sich schüttelten, sich heulend verrenkten, in eine Ekstase verfielen, in der sie uns anderen unsichtbare Dinge sahen, und schließlich, eine nach der anderen, als eine der letzten Marpessa, in sich zusammensackten und erschöpft niedersanken.
Von Furcht und Schrecken erfüllt floh ich, irrte lange umher, kam tief in der Nacht nach Hause, fand mein Bett bereitet, eine Mahlzeit gerichtet, Marpessa neben meinem Lager wartend. Und am nächsten Morgen, im Palast, wie immer die glatten Gesichter.
Was ging vor. Wo lebte ich denn. Wie viele Wirklichkeiten gab es in Troia noch außer der meinen, die ich doch für die einzige gehalten hatte. Wer setzte die Grenze fest zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Und wer ließ nun zu, daß der Boden, auf dem ich so sicher gegangen war, erschüttert wurde. – Ich weiß, wer Kybele ist! schrie ich die Mutter an. So, sagte Hekabe. Dann ist es ja gut. Keine Frage, wer mich hingeführt. Keine Nachforschungen. Keine Bestrafung. Zeigte die Mutter einen Zug von Erleichterung, gar Schwäche? Was sollte mir eine Mutter, die Schwäche zeigte? Mich vielleicht über ihre Bekümmernis ins Vertrauen ziehn wollte? Da wich ich zurück. Entzog mich, wie lange noch, den Berührungen der wirklichen Leute. Brauchte und verlangte Unnahbarkeit. Wurde Priesterin. Ja. Sie hat mich doch früher gekannt als ich sie.
Die Königin, sagte der Vater mir in einer unserer vertrauten Stunden, Hekabe herrscht nur über solche, diebeherrschbar sind. Sie liebt die Unbeherrschbaren. – Mit einem Schlag sah ich den Vater in anderem Licht. Hekabe liebte ihn doch? Zweifellos. Also war er unbeherrschbar? – Ach. Einst waren auch die Eltern jung. Als der Krieg fortschritt, jedermanns Eingeweide bloßlegte, änderte sich wiederum das Bild. Priamos wurde immer unzugänglicher, starrer, doch beherrschbar, nur nicht mehr durch Hekabe. Hekabe wurde weicher, dabei unbeugsam. Den Priamos tötete der Schmerz um seine Söhne, ehe noch der Feind ihn erstach. Hekabe, aufgerissen durch den Schmerz, wurde von einem Unglücksjahr zum anderen immer mitfühlender, lebendiger.
Wie auch ich. Nie war ich lebendiger als in der Stunde meines Todes, jetzt.
Was ich lebendig nenne? Was nenne ich lebendig. Das Schwierigste nicht scheuen, das Bild von sich selbst ändern. Worte, sagte Panthoos, da war er noch ein Widerpart für mich. Nichts als Worte, Kassandra. Der Mensch ändert nichts, warum ausgerechnet sich selbst, warum ausgerechnet das Bild von sich.
Wenn ich mich heute an dem Faden meines Lebens zurücktaste, der in mir aufgerollt ist; den Krieg überspringe, ein schwarzer Block; langsam, sehnsuchtsvoll in die Vorkriegsjahre zurückgelange; die Zeit als Priesterin, ein weißer Block; weiter zurück: das Mädchen – dann bleibe ich an dem Wort schon hängen, das Mädchen, und um wieviel mehr noch hänge ich erst an seiner Gestalt. An dem schönen Bild. Ich habe immer mehr an Bildern gehangen als an Worten, es ist wohl merkwürdig und ein Widerspruch zu meinem Beruf, aber dem kann ich nicht mehr nachgehn. Das Letzte wird ein Bild sein, kein Wort. Vor den Bildern sterben die Wörter.
Todesangst.
Wie wird es sein. Wird die Schwäche übermächtig. Wird der Körper die Herrschaft über mein Denken übernehmen. Wird, in einem gewaltigen Schub, die Todesangst einfach wieder alle Positionen besetzen, die ich meiner Unwissenheit, meiner Bequemlichkeit, meinem Hochmut, meiner Feigheit, Faulheit, Scham abgerungen habe. Wird sie es fertigbringen, auch den Vorsatz einfach wegzuschwemmen, für den ich auf dem Weg hierher die Formel suchte und fand: Ich will die Bewußtheit nicht verlieren, bis zuletzt.
Als unsere – Dummheit! ihre Schiffe bei Windstille und
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