Kassandra
ruhte am liebsten, bewundernd haben wir alle mit angesehen, wie er sich dann, ganz gegen seine Neigung, für den Krieg trainierte. Und für Andromache, das war nicht zu unterscheiden. Wie er laufen konnte – Götter! – als Achill das Vieh ihn um die Festung jagte.
Keiner von uns, keine Seherin, kein Orakelsprecher, hat an jenem Abend auch nur den Hauch einer Ahnung verspürt. Im Mittelpunkt des Interesses stand nicht Eumelos, schon gar nicht Paris, aber auch nicht der GastMenelaos: Der Palast richtete seine Augen auf Briseis und Troilos, das Paar schlechthin, unwillkürlich lächelte jeder, der die beiden ansah. Briseis war des Troilos erste Liebe, und keiner konnte zweifeln, wenn er sagte, es werde auch seine letzte sein. Briseis, kaum älter, aber reifer als er, schien ihr Glück kaum fassen zu können; seit ihr Vater uns verlassen hatte, war sie nicht mehr heiter gewesen. Oinone dagegen, die sehr gelenkige Schöne, an der als erstes ihr Hals auffiel, ein Schwanenhals, auf dem der schön geformte Kopf saß – Oinone, die sich der Paris aus den Bergen mitgebracht hatte und die von den Leuten in der Küche angebetet wurde, schien bedrückt. Sie bediente bei Tisch, man hatte ihr das Königspaar und den Gast zugeteilt, ich sah, daß sie sich zu lächeln zwingen mußte. Auf dem Gang ertappte ich sie, wie sie einen Becher Wein auf einen Zug austrank. Das Beben in mir hatte schon begonnen, ich unterdrückte es noch. Ich würdigte die Gestalten keines Blikkes, die sich in unsrer Nähe herumdrückten, und fragte Oinone, was ihr fehle. Der Wein und der Kummer hatten ihre Scheu vor mir weggeschwemmt. Paris sei krank, sagte sie mit bleichen Lippen, und keines ihrer Heilmittel könne helfen. Oinone, die nach Meinung der Dienerschaft in ihrem früheren Leben eine Wassernymphe gewesen sein sollte, war aller Pflanzen und ihrer Wirkung auf den menschlichen Organismus kundig, die meisten Kranken des Palastes gingen zu ihr. Die Krankheit des Paris sei ihr unbekannt und mache ihr angst. Er liebe sie, dafür habe sie untrügliche Zeichen. Aber in ihren Armen rufe er laut den Namen einer andren Frau: Helena, Helena. Sie sei ihm von Aphrodite versprochen. Aber habe schon jemals ein Menschgehört, daß Aphrodite, unsre liebe Liebesgöttin, einem Manne eine Frau zutreibt, die er gar nicht liebt? Nicht einmal kennt? Nur besitzen will, weil sie angeblich die schönste aller Frauen sei? Weil er durch ihren Besitz der erste aller Männer werde?
Ganz deutlich hörte ich hinter der zitternden Stimme der Oinone die heisere durchdringende Stimme des Eumelos, und mein inneres Beben wurde stärker. Wie jedem Menschen gab mir der Körper Zeichen; anders als andre war ich nicht imstande, die Zeichen zu übergehn. Unheil fürchtend trat ich wieder in den Saal, in dem die einen immer stiller, die andern, die dem Eumelos anhingen, lauter und dreister geworden waren. Paris, der schon zuviel getrunken hatte, erzwang von Oinone einen neuen Becher Wein, den er hinunterstürzte, worauf er den Griechen Menelaos, der sein Nachbar war, laut auf seine schöne Frau ansprach, Helena. Menelaos, ein nüchterner, nicht mehr junger, zu Dickleibigkeit und Stirnglatze neigender Mann, der Streit nicht suchte, gab dem Sohn des Gastgebers höflich Bescheid, bis seine Fragen so frech wurden, daß Hekabe, ungewöhnlich zornig, dem ungezogenen Sohn den Mund verbot. Todesstill wurde der Saal. Nur Paris sprang auf, schrie: Wie! Schweigen solle er? Schon wieder? Immer noch? Sich klein machen? Unsichtbar womöglich? O nein. Die Zeiten sind vorbei. Ich, Paris, bin nicht zurückgekommen, um zu schweigen. Ich, Paris, bin es, der des Königs Schwester von den Feinden wiederholt. Wenn sie mir aber verweigert wird, findet sich eine andre, schöner als sie. Jünger. Edler. Reicher. Es ist mir versprochen worden, daß ihrs wißt.
Nie vorher herrschte im Palast von Troia solcheStille. Ein jeder spürte, ein Maß, das bisher gültig war, wurde hier verletzt. So hatte nie ein Mitglied unserer Familie sprechen dürfen. Ich aber. Ich allein sah. Oder »sah« ich denn? Wie war das doch. Ich fühlte. Erfuhr – ja, das ist das Wort; denn eine Erfahrung war es, ist es, wenn ich »sehe«, »sah«: Was in dieser Stunde seinen Ausgang nahm, war unser Untergang. Stillstand der Zeit, ich wünsch es niemandem. Und Grabeskälte. Endgültge Fremdheit, schien es, gegenüber mir und jedermann. Bis endlich die entsetzliche Qual, als Stimme, sich aus mir, durch mich hindurch und mich zerreißend ihren
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