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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Staatsgeschäften, schien mich nicht zu sehn: Menelaos. Du weißt? Vielleicht gar nicht so übel.
    Ich ging. Während der Palast sein Bestes tat, den Gast zu empfangen, der seltsamerweise an zwei unsrer Heroengräber opfern wollte, um die Pest in Sparta zum Stillstand zu bringen; während die Tempel aller Götter Staatszeremonien vorbereiteten, pflegte ich meineverquere Genugtuung. Mit Genugtuung fühlte ich die Kälte, die sich in mir ausbreitete. Ich wußte noch nicht, daß Fühllosigkeit niemals ein Fortschritt ist, kaum eine Hilfe. Wie lange es dauerte, bis meine Gefühle in die verödeten Seelenräume wieder einströmten. Meine Wiedergeburt gab mir nicht nur die Gegenwart zurück, das, was man Leben nennt, sie erschloß mir auch die Vergangenheit neu, unverzerrt durch Kränkung, Zu- und Abneigung und alle die Luxus-Empfindungen der Priamostochter. Wie ich triumphgeschwollen beim Gastmahl saß, an dem Platz in der Reihe der Geschwister, der mir zustand. Jemand, der so getäuscht worden war wie ich, war denen nichts mehr schuldig. Ich hätte, vor allen anderen, ein Anrecht gehabt, zu wissen. Um sie zu strafen, mußte ich in Zukunft mehr wissen als sie. Priesterin werden, um Macht zu gewinnen? Götter. Bis an diesen äußersten Punkt habt ihr mich treiben müssen, um diesen schlichten Satz aus mir herauszupressen. Wie schwer es bis zuletzt die Sätze haben, die mich angreifen. Um wieviel schneller und leichter die Sätze passieren, die auf andre zielen. Arisbe hat es mir einmal klipp und klar gesagt, wann war das doch, Marpessa.
    In der Mitte des Kriegs, sagt sie. Lange schon trafen wir uns abends am Hang des Ida-Bergs vor den Höhlen, wir Frauen. Auch die uralten Hebammen lebten immer noch und kicherten mit ihren zahnlosen Mündern, und selbst du hast damals gelächelt, Marpessa, auf meine Kosten. Nur ich lachte nicht. Meine alte Gekränktheit schwoll in mir an, da sagte Arisbe, anstatt ein Gesicht zu ziehn, solle ich heilfroh sein, daß es Leute gebe, die mir unverblümt die Meinung sagten. Welche Tochter aus mächtigem Hause habe schon dies Glück. Schonwahr, sagte ich, laß gut sein. Mehr als alles, glaub ich, liebte ich Arisbes Humor. Unvergeßlicher Anblick, wie sie, mächtiger Körper, auf diesem vermodernden Baumstamm vor der Höhle hockte und mit ihrem Stocke uns den Takt klopfte. Wer würde uns glauben, Marpessa, daß wir mitten im Krieg regelmäßig zusammenkamen, außerhalb der Festung, auf Wegen, die außer uns Eingeweihten niemand kannte; daß wir, weit besser unterrichtet als irgendeine andre Gruppe in Troia, die Lage besprachen, Maßnahmen berieten (auch durchführten), aber auch kochten, aßen, tranken, miteinander lachten, sangen, spielten, lernten. Immer gab es Monate, in denen die Griechen, hinter ihren Uferpalisaden verschanzt, uns nicht angriffen. Sogar der Große Markt vor den Toren Troias konnte abgehalten werden, im Angesicht der griechischen Flotte. Und nicht selten erschien einer ihrer Fürsten – Menelaos, Agamemnon, Odysseus oder einer der beiden Aiasse – zwischen den Ständen und Buden, begrapschte die Waren, die er oft nicht kannte, und kaufte für sich oder seine Frau Stoffe, Lederwaren, Geschirr und Gewürze. Als Klytaimnestra vorhin auftrat, erkannte ich sie sofort an dem Kleid: Den Stoff zu diesem Kleid trug ein Sklave hinter dem unglückseligen Agamemnon her, als ich ihn auf unserm Markt zum erstenmal sah. Gleich mißfiel mir etwas an der Art seines Auftretens, herrisch drängte er sich an Arisbes Stand nach vorn, schob die Keramiken wählerisch hin und her und zerbrach eine der schönsten Vasen, die er, auf ein Wort von Arisbe, hastig bezahlte, um dann unter dem Gelächter der Zuschauer mit seinem Gefolge zu entfliehn. Er hatte gesehn, daß ich ihn gesehn hatte.
    Der rächt sich, sagte ich zu Arisbe, und es beunruhigte mich tief, daß der große und berühmte Flottenführer der Griechen ein Schwächling ohne Selbstbewußtsein war. Um wieviel besser ist ein starker Feind. Manchmal erhellt ja ein kleiner Zug einen großen Vorgang. Mir war plötzlich klar, daß es stimmen konnte, stimmen mußte, was ein griechischer Überläufer berichtet hatte und was auf Befehl des Priamos nicht weiterverbreitet werden durfte, damit das Volk den Feind nicht für ein Ungeheuer halten sollte: daß dieser selbe Agamemnon seine eigne Tochter, ein junges Mädchen namens Iphigenie, vor der Überfahrt seiner Flotte auf dem Opferaltar der Göttin Artemis schlachten ließ. Wie oft ich all die

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