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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Weg gebahnt hatte und sich losgemacht. Ein pfeifendes, ein auf dem letzten Loch pfeifendes Stimmchen, das mir das Blut aus den Adern treibt und die Haare zu Berge stehn läßt. Das, wie es anschwillt, stärker, gräßlicher wird, all meine Gliedmaßen ins Zappeln, Rappeln und ins Schleudern bringt. Aber die Stimme schert das nicht. Frei hängt sie über mir und schreit, schreit, schreit. Wehe, schrie sie. Wehe, wehe. Laßt das Schiff nicht fort!
    Dann fiel der Vorhang vor mein Denken. Der Schlund öffnete sich. Dunkelheit. Ich stürzte ab. Auf grauenerregende Weise soll ich gegurgelt haben, Schaum sei mir vor den Mund getreten. Auf einen Wink der Mutter hätten die Wachen – Männer des Eumelos! – mich unter den Achseln gepackt und mich aus dem Saal geschleift, in dem es weiterhin so still gewesen sei, daß man das Schleifen meiner Füße auf dem Boden hätte hören können. Die Tempelärzte hätten sich zu mir gedrängt, Oinone habe man nicht zugelassen. In meinem Zimmer sei ich eingeschlossen worden. Der verstörten Festgesellschaft habe man gesagt, ich brauche Ruhe. Müssezu mir kommen, der Vorfall sei unbedeutend. Unter den Geschwistern habe sich in Windeseile das Gerücht verbreitet, ich sei wahnsinnig.
    Das Volk, so hat man mir berichtet, jubelte am frühen Morgen der Abfahrt des Menelaos und zugleich dem Auslaufen des DRITTEN SCHIFFES zu und drängte sich zur Verteilung von Opferfleisch und Brot. Am Abend war die Stadt voll Lärm. In den Innenhof, auf den mein Fenster ging, drang kein Laut, man hielt alle Zugänge abgesperrt. Der Himmel, in den ich aus dem Fenster starrte, war mir Tag und Nacht von tiefstem Schwarz. Essen wollte ich nicht. Parthena die Amme flößte mir in kleinen Schlucken Eselsmilch ein. Ich wollte diesen Leib nicht füttern. Ich wollte diesen verbrecherischen Körper, in dem die Todesstimme ihren Sitz hatte, aushungern, ausdörren. Wahn-Sinn als Ende der Verstellungsqual. O, ich genoß ihn fürchterlich, umgab mich mit ihm wie mit einem schweren Tuch, ich ließ mich Schicht für Schicht von ihm durchdringen. Er war mir Speise und Trank. Dunkle Milch, bitteres Wasser, saures Brot. Ich war auf mich zurückgefallen. Doch es gab mich nicht.
    Hervorbringen müssen, was einen vernichten wird: der Schrecken über den Schrecken. Ich konnte nicht aufhörn, den Wahnsinn zu machen, pulsierender Schlund, der mich ausspie und ansaugte, ausspie und ansaugte. Schwerer hatte ich mich nie angestrengt, als da es mir nicht gelang, den kleinen Finger zu rühren. Atemlos war ich, rang nach Luft, hechelte. Rasend schnell und hart schlug mein Herz, wie die Herzen der Kämpfer nach den Wettkämpfen schlagen. Und in mir wurde gekämpft, das merkte ich wohl. Zwei Gegner aufLeben und Tod hatten sich die erstorbne Landschaft meiner Seele zum Kampfplatz gewählt. Nur der Wahnsinn schützte mich vor dem unerträglichen Schmerz, den die beiden mir sonst zugefügt hätten. So hielt ich am Wahnsinn fest, er an mir. In meinem tiefsten Innern, dort, wohin er nicht vordrang, hielt sich ein Wissen von den Zügen und Gegenzügen, die ich mir »weiter oben« erlaubte: ein humoristischer Zug in jedem Wahnsinn. Der hat gewonnen, der ihn zu erkennen und zu nutzen weiß.
    Hekabe kam, streng, Priamos ängstlich, die Schwestern scheu, Parthena die Amme mitleidsvoll, Marpessa verschlossen – keiner nützte mir. Zu schweigen von der feierlichen Hilflosigkeit des Panthoos. Ich ließ mich tiefer sinken, versuchsweise, in winzigen Schüben. Sehr sehr dünn war die Verbindung mit diesen hier, sie konnte reißen. Ein gräßlicher Kitzel. Ich mußte es darauf ankommen lassen, den ungeheuren Gesichten noch mehr Raum geben, meine Sinne noch weiter zurücknehmen. Ein Spaß ist es nicht, das will ich nicht gesagt haben. Man zahlt für die Fahrt in die Unterwelt, die von Gestalten bewohnt ist, denen zu begegnen keiner gewärtig ist. Ich heulte. Wälzte mich in meinem Schmutz. Kratzte mir das Gesicht auf, ließ keinen an mich heran. Ich hatte die Kraft von drei Männern – unvorstellbar, welche Gegenkraft die vorher gebändigt hatte. Ich ging an den kalten Wänden meines Zimmers hoch, das man bis auf eine Reisigschütte leergeräumt hatte. Ich fraß wie ein Tier mit den Fingern, wenn ich etwas zu mir nahm. Mein Haar stand verfilzt und verdreckt um meinen Kopf. Niemand, auch ich nicht, wußte, wie es enden sollte. O ich war verbohrt.
    Auch die Gestalt brüllte ich an, die eines Tages hereinkam. Sie kauerte sich in eine Ecke und blieb, länger

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