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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Kriegsjahre über an diese Iphigenie denken mußte. Das einzige Gespräch, das ich mir mit diesem Mann erlaubte, ging um seine Tochter. Auf dem Schiff war es, am Tag nach der Sturmnacht, ich stand am Heck des Schiffs, er neben mir. Tiefblauer Himmel und die weiße Gischtlinie, die das Schiff im glatten grünblauen Meer hinterließ. Rundheraus fragte ich den Agamemnon nach Iphigenie. Er weinte, aber nicht, wie man aus Trauer weint, aus Angst und Schwäche. Er habe es doch tun müssen. Was, fragte ich kalt, ich wollte, daß er es aussprach. Er wand sich. Er habe sie opfern müssen. Das war nicht, was ich hören wollte, aber Wörter wie »morden«, »schlachten« sind ja den Mördern und Schlächtern unbekannt. Wie weit ich mich, auch in meiner Sprache, von ihnen entfernt hatte. Euer Kalchas, rief Agamemnon anklagend, hat um günstger Winde willen dies Opfer strikt von mir verlangt. Und du hast ihm geglaubt, hab ich gesagt. Ich vielleicht nicht, greinte er. Nein, ich nicht. Die anderen, die Fürsten. Einjeder neidisch auf mich, den Befehlshaber. Ein jeder schadenfroh. Was kann ein Führer gegen ein Heer von Abergläubischen. Laß mich in Ruhe, sagte ich. Groß vor mir stand der Klytaimnestra Rache.
    Damals, nach der ersten Begegnung mit diesem Unglücksmenschen, sagte ich Arisbe: Dem Priamos hätte kein Priester ein solches Opfer abverlangen dürfen. Arisbe sah mich groß an, da fiel mir Paris ein. War es dasselbe. War es wirklich dasselbe: einen Säugling heimlich töten lassen und ein erwachsnes Mädchen öffentlich schlachten? Und ich erkannte nicht, daß es dasselbe war? Weil es nicht mich, die Tochter, betraf, sondern Paris, den Sohn? Du brauchst viel Zeit, meine Liebe, sagte Arisbe.
    Ich brauchte viel Zeit. Meine Vorrechte stellten sich zwischen mich und die allernötigsten Einsichten, auch meine Anhänglichkeit an die eignen Leute, die nicht von den Vorrechten abhing, die ich genoß. Beinah erschrak ich, daß mir das steif-stolze Gehabe der Königsfamilie peinlich war, als wir in feierlichem Zug, gemeinsam mit dem Gastfreund Menelaos, der Pallas Athene ihr neues Gewand brachten. Neben mir Panthoos, den ich spöttisch lächeln sah. Lachst du den König aus, fragte ich ihn scharf. Da sah ich zum erstenmal etwas wie Angst in seinen Augen. Und ich sah, er hatte einen sehr zerbrechlichen Körper, auf dem ein etwas zu großer Kopf saß. Begriff, warum er mich »kleine Kassandra« nannte. Womit er im gleichen Moment aufhörte. Ebenso wie er aufhörte, mich nachts zu besuchen. Eine ganze Zeitlang besuchte niemand mich bei Nacht. Natürlich litt ich, haßte mich für die Träume, in denen ich mich auf verquere Weise befreite, bis sich dieserganze Aufwand an Gefühl als das herausstellte, was er war: Unsinn, und sich in Nichts auflöste.
    Das denkt sich so, aber was soll ich machen, ich habe es hinter mir. Der Übertritt aus der Palastwelt in die Welt der Berge und Wälder war auch der Übergang von der Tragödie in die Burleske, deren Kern es ist, daß man sich selbst nicht tragisch nimmt. Wichtig – das ja, und warum auch nicht. Aber eben nicht tragisch, wie die oberen Schichten im Palast es tun. Tun müssen. Wie anders könnten sie sich ein Recht auf ihre Selbstsucht einreden. Wie anders ihren Genuß noch steigern als dadurch, daß sie ihm einen tragischen Hintergrund geben. Dabei hab ich ihnen tüchtig geholfen, auf meine Weise, also um so glaubhafter. Der Wahnsinn, der ins Gastmahl einbricht – was könnte grauenvoller und daher appetitsteigernder sein. Ich schäme mich nicht. Nicht mehr. Aber vergessen habe ich es auch nicht können. Wie ich, es war der Vorabend der Abreise des Menelaos, zugleich der Vorabend für das DRITTE SCHIFF, beim Königsmahl saß, rechts neben mir Hektor, den wir Geschwister unter uns »dunkle Wolke« nannten, links, beharrlich schweigend, Polyxena. Gegenüber der ganz junge liebreizende Bruder Troilos mit der klugen Briseis, des abtrünnigen Kalchas Tochter: beide ein Paar, das sich, was meiner Eitelkeit schmeichelte, ausgerechnet unter meinen Schutz gestellt hatte. Am Kopf der Tafel Priamos, Hekabe, Menelaos, der Gast, den niemand mehr »Gastfreund« nennen sollte. Was? Wer verbot denn das! Eumelos, hieß es. Eumelos? Wer ist Eumelos. Ach ja. Jener Mann im Rat, dem jetzt die Palastwache unterstand. Seit wann entschied ein Offizier über den Gebrauch von Wörtern. Seitdem die, diesich die »Königspartei« nannten, in dem Spartaner Menelaos nicht den Gastfreund, sondern den Kundschafter

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