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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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angreife. Die geistige Rüstung bestand in der Schmähung des Feindes (von »Feind« war schon die Rede, eh noch ein einziger Grieche ein Schiff bestiegen hatte) und im Argwohn gegen die, welche verdächtig waren, dem Feind in die Hände zu arbeiten:Panthoos der Grieche. Briseis, des abtrünnigen Kalchas Tochter. Die weinte abends oft in meinem Schlafraum. Auch wenn sie sich, um ihn nicht in Gefahr zu bringen, von Troilos trennen würde: Er ließ sie ja nicht gehn. Auf einmal war ich die Beschützerin eines gefährdeten Paares. Mein junger Bruder Troilos, der Sohn des Königs, wurde angefeindet, weil er sich eine Liebste nach seinem Geschmack nahm: unvorstellbarer Vorgang. Tja, sagte König Priamos, schlimm, schlimm. Hekabe fragte: Wo schläfst denn du, wenn die beiden bei dir übernachten? Sie bot mir an, in ihr Schlafzimmer zu kommen. Heimlich.
    Aber wo lebten wir denn. Ich muß mich scharf erinnern: Sprach in Troia irgendein Mensch von Krieg? Nein. Er wäre bestraft worden. In aller Unschuld und besten Gewissens bereiteten wir ihn vor. Sein erstes Zeichen: Wir richteten uns nach dem Feind. Wozu brauchten wir den?
    Die Rückkunft des DRITTEN SCHIFFES ließ mich eigenartig kühl. Eine nächtliche Ankunft, dafür wurde gesorgt, trotzdem lief Volk zusammen, Fackeln wurden hochgehalten, aber wer erkennt im Halbdunkel Gesichter, wer zählt sie, hält sie auseinander. Da war, unverkennbar, Anchises, der sich bis in sein hohes Alter wie ein Jüngling bewegte, er schien es eiliger zu haben als sonst, gab keine Erklärungen ab, verbat sich die Begleitung des Eumelos und verschwand im Palast. Da waren die jungen Männer, auf die ich hätte warten sollen, aber auf wen denn? Auf Aineias? Gar auf Paris? Für wen von ihnen begann mein Herz nun doch zu klopfen? Niemand kam an sie heran. Zum erstenmal war eine weite Sperrkette von Eumelos-Leuten um die Landestellegezogen. Paris sei nicht mit diesem Schiff gekommen, hieß es am Morgen, als Information für die Angehörigen des Königshauses. Da man ihm in Sparta die Rückgabe der Königsschwester wiederum verweigert habe, sei er gezwungen gewesen, seine Drohung wahr zu machen. Er habe, kurz gesagt, die Gattin des Menelaos entführt. Die Frau des Königs von Sparta. Die schönste Frau Griechenlands: Helena. Mit ihr sei er auf Umwegen unterwegs nach Troia.
    Helena. Der Name traf uns wie ein Stoß. Die schöne Helena. Darunter tat es der kleine Bruder nicht. Man hätte es wissen können. Man hatte es gewußt. Ich war Zeugin, wie im Hin und Her zwischen dem Palast und den Tempelpriestern, in Tag- und Nachtsitzungen des Rats eine Nachricht hergestellt wurde, hart, gehämmert, glatt wie eine Lanze: Paris der Troerheld habe auf Geheiß unsrer lieben Göttin Aphrodite Helena, die schönste Frau Griechenlands, den großmäuligen Griechen entführt und so die Demütigung gelöscht, die unserm mächtigen König Priamos einst durch den Raub seiner Schwester angetan worden war.
    Jubelnd lief das Volk durch die Straßen. Ich sah eine Nachricht zur Wahrheit werden. Und Priamos hatte einen neuen Titel: »Unser mächtiger König«. Später, je aussichtsloser der Krieg wurde, mußte man ihn »Unser allermächtigster König« nennen. Zweckmäßige Neuerungen, sagte Panthoos. Was man lange genug gesagt hat, glaubt man am Ende. Ja, erwiderte ihm Anchises trocken. Am Ende. Ich dachte wenigstens den Sprachkrieg aufzuhalten. Nie sagte ich anders als »Vater« oder höchstens »König Priamos«. Aber ziemlich genau erinnere ich mich an den schalltoten Raum, in densolche Worte fielen. Du kannst dir das leisten, Kassandra, hörte ich. Es stimmte. Sie leisteten es sich, Mord und Totschlag weniger zu fürchten als die grollende Augenbraue ihres Königs und die Denunziation durch Eumelos. Ich leistete mir ein bißchen Voraussicht und ein kleines bißchen Trotz. Trotz, nicht Mut.
    Wie lange hab ich an die alten Zeiten nicht gedacht. Es stimmt: Der nahe Tod mobilisiert noch mal das ganze Leben. Zehn Jahre Krieg. Sie waren lang genug, die Frage, wie der Krieg entstand, vollkommen zu vergessen. Mitten im Krieg denkt man nur, wie er enden wird. Und schiebt das Leben auf. Wenn viele das tun, entsteht in uns der leere Raum, in den der Krieg hineinströmt. Daß auch ich mich anfangs dem Gefühl überließ, jetzt lebte ich nur vorläufig; die wahre Wirklichkeit stünde mir noch bevor; daß ich das Leben vorbeigehn ließ: Das tut mir mehr als alles andre leid. Panthoos kam wieder zu mir, seit ich für gesund galt. In

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