Kassandra
hat, unter sich begrub. Wenn wir geglaubt hatten, der Schrecken könne sich nicht mehr steigern, so mußten wir jetzt einsehn, daß es für die Greuel, dieMenschen einander antun, keine Grenzen gibt; daß wir imstande sind, die Eingeweide des andern zu durchwühlen, seine Hirnschale zu knacken, auf der Suche nach dem Gipfelpunkt der Pein. »Wir« sag ich, und von allen Wir, zu denen ich gelangte, bleibt dies dasjenige, das mich am meisten anficht. »Achill das Vieh« sagt sich um so vieles leichter als dies Wir.
Warum ich stöhne? Marpessa war dabei – du, Marpessa, warst dabei, als Myrine, ein blutiges Bündel, an die Tür der Hütte kratzte, in die wir uns gerettet hatten. Es war todfinster, diese Nacht erhellten keine Feuer, die Toten wurden erst am Morgen eingesammelt. An Myrines Körper gab es keinen Flecken, wo wir sie berühren konnten, ohne daß sie winselte. Ich seh noch das Gesicht der Bäuerin, in deren Hütte wir Schutz fanden, als Myrine vor uns lag und wir ihre Wunden mit einem Kräutersaft betupften. Wir, Marpessa, du und ich, wir hatten keine Tränen. Ich hoffte, daß es schnell zu Ende ginge. Als wir hörten, daß die Griechen auf der Suche nach versprengten Amazonen zum erstenmal in diese Hütten kamen, warfen wir ungesponnene Wolle bergweis auf Myrine in der Ecke, der Berg bewegte sich von ihrem kleinen Atem nicht. Wir hockten in schmutzigen zerrissenen Kleidern um das Feuer, ich weiß noch, daß ich ein Messer schärfte zum Gemüseschneiden und daß der Blick des Griechen, der hereinbrach, zugleich mit meinem Blick auf diesem Messer lag. Dann sahen wir uns an. Er hatte mich verstanden. Er rührte mich nicht an. Nahm, um das Gesicht zu wahren, die Ziege mit, die Anchises geschnitzt hatte und die in einer Wandvertiefung stand. Als nach Wochen in Myrine das Bewußtsein von dem, was geschehen war, erwachte,konnte sie sich nicht verzeihen, daß sie gerettet war. Außer Penthesileas Namen sagte sie kein Wort. Ja, ich stöhne wieder, wie wir damals stöhnten, wenn wir den Namen dachten oder hörten. Myrine wich ihr in der Schlacht nicht von der Seite. Als Achill sich Penthesilea vornahm, haben fünf Männer Myrine festgehalten, ich sah die Blutergüsse unter ihrer Haut. Andre Frauen, nicht Myrine, haben es uns erzählt. Achill war außer sich vor Staunen, als er im Kampf auf Penthesilea traf. Er begann mit ihr zu spielen, sie stieß zu. Achill soll sich geschüttelt haben, er glaubte wohl, nicht bei Verstand zu sein. Ihm mit dem Schwert begegnen – eine Frau! Daß sie ihn zwang, sie ernst zu nehmen, war ihr letzter Triumph. Sie kämpften lange, alle Amazonen waren von Penthesilea abgedrängt. Er warf sie nieder, wollte sie gefangennehmen, da ritzte sie ihn mit dem Dolch und zwang ihn, sie zu töten. Dafür, wenn für irgend etwas, sei den Göttern Dank.
Was dann kam, seh ich vor mir, als wär ich dabeigewesen. Achill der Griechenheld schändet die tote Frau. Der Mann, unfähig, die Lebendige zu lieben, wirft sich, weiter tötend, auf das Opfer. Und ich stöhne. Warum. Sie hat es nicht gefühlt. Wir fühlten es, wir Frauen alle. Was soll werden, wenn das um sich greift. Die Männer, schwach, zu Siegern hochgeputscht, brauchen, um sich überhaupt noch zu empfinden, uns als Opfer. Was soll da werden. Selbst die Griechen spürten, hier war Achill zu weit gegangen. Und gingen weiter, um ihn zu bestrafen: Schleiften die Tote, um die er nun weinte, mit Pferden übers Feld und warfen sie in den Fluß. Die Frau schinden, um den Mann zu treffen.
Ja. Ja. Ja. Ein Untier war los und raste durch dieLager. Weißäugig, mit entstellten Zügen, raste dem Pulk voran, der Penthesileas Leiche trug und sich auf dem Weg vom Fluß her, wo sie sie herausgezogen hatten, immer mehr vergrößerte. Amazonen, Troerinnen, alles Frauen. Ein Zug zu keinem Ort, den es auf Erden gibt: dem Wahnsinn zu. Kein Grieche ließ sich blicken. Als sie zum Tempel kamen, wo ich den Dienst versah, waren sie nicht mehr kenntlich. Menschenunähnlich, wie die Leiche war, wurden ihre Begleiterinnen. Ich rede nicht von dem Geheul. Sie warn am Ende, und sie wußten es, aber der Bereich, in dem man weiß, war durch das Wissen ausgelöscht. Ihr Wissen war in ihrem Fleisch, das unerträglich schmerzte – das Geheul! –, in ihren Haaren, Zähnen, Fingernägeln, in Mark und Bein. Sie litten über jedes Maß, und solches Leiden hat sein Gesetz in sich. Alles, was daraus entsteht, fällt auf die zurück, die es verursacht haben; so sprach ich später, vor
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