Kassandra
war mit ihm verbunden, viel zu wenig sagte. Achill das Vieh hat ihn, hat mich erstochen, verstümmelt, am Gehenk des Aias viele Male um die Burg geschleift. Ich war lebend, was der tote Hektor wurde: ein Klumpen rohes Fleisch. Fühllos. Das Geschrei der Mutter, des Vaters Heulen: fern. Ob er den Leichnam von Achill erbitten sollte. Warum denn nicht. Des Vaters nächtlicher Gang, der mich, wäre ich noch ich gewesen, unendlich hätte rühren können. Ein wenig rührte mich, daß er sich an Achill, den er im Schlaf getroffen, nicht vergreifen konnte. Dann stand ich, ungerührt, wieder einmal auf der Mauer, am wohlbekannten Platz neben dem Skäischen Tor. Unten die Waage. Auf der einen Schale eine rohe Masse Fleisch, die einst Hektor, unser Bruder, war und auf der andern unser ganzes Gold fürHektors Mörder. Dies war der tiefste oder höchste Punkt des Krieges. Meine innre Kälte. Andromache, die leblos auf der Erde lag. Und Polyxenas Gesicht, das hierher paßte, Lust an Selbstzerstörung. Wie sie verächtlich ihre Armringe und Ketten auf den Goldberg warf, dem ein weniges noch zu dem Gewicht von Hektors Leiche fehlte. Wir lernten rasend schnell. Daß man Tote mit Gold aufwiegt, hatten wir nicht gewußt. Doch es war noch andres möglich: Einen toten Mann gegen eine lebendige Frau zu tauschen. Achill schrie es herauf, zu Priamos: He, König! Gib mir deine schöne Tochter Polyxena und behalt dein Gold.
Polyxenas Lachen. Und des Königs Antwort, die er schnell mit Eumelos und Andron abgesprochen: Berede Menelaos, daß er auf Helena verzichtet, und du bekommst die Tochter Polyxena.
Von diesem Tag an träumte ich nicht mehr, ein schlimmes Zeichen. An diesem Tag und in der Nacht, die auf ihn folgte, wurde jenes Teil zerstört, aus dem die Träume kommen, auch die schlimmen. Achill das Vieh hielt außer uns und in uns jeden Zoll besetzt. In jener Nacht, da er die Leiche des Patroklos, seines Liebsten, verbrennen ließ, schlachtete Achill das Vieh als Opfer zwölf Gefangene, die edelsten, zwei Söhne Hekabes und Priamos’ darunter. In jener Nacht verließen uns die Götter. Zwölfmal der Schrei, der eines Tieres. Zwölfmal gruben sich der Mutter Fingernägel tiefer in mein Fleisch. Dann prasselten dreizehn Scheiterhaufen auf, ein ungeheuer großer und zwölf kleinere, die schauerliche rote Glut gegen den schwarzen Himmel. Dann roch es nach verbranntem Fleisch, der Wind kam von See. Zwölfmal hatte das glühende Eisen in uns jeneStelle ausgebrannt, aus der Schmerz, Liebe, Leben, Träume kommen können. Das namenlose Weiche, das den Mensch zum Menschen macht. Hekabe, als sie von mir abfiel, war eine alte Frau, hohlwangig, weißhaarig. Andromache ein wimmerndes Bündel in der Ecke. Polyxena scharf und entschlossen wie ein Schwert. Priamos, bar jeden Königtums, ein kranker Greis.
Troia lag dunkel, totenstill. Ein Trupp unsrer Krieger stürmte unter der Führung von Bruder Paris in die Kellerräume der Zitadelle, in denen, schlotternd vor Angst, die griechischen Gefangenen beieinander hockten. Eines der Palastmädchen holte mich. Ich trat in den Keller, der nach Moder, Schweiß und Exkrementen stank. In zitternder Stille standen die Troer und die gefangnen Griechen sich gegenüber, zwischen ihnen der Abgrund eines Schrittes, über dem Abgrund der Troer blanke Messer. Da trat ich, ohne Priesterkleid, in diesen schmalen Zwischenraum, ging ihn, vom heißen Atem der Griechen, von den kalten Messern der Troer gestreift, Schritt für Schritt entlang, von der einen Wand zur andern. Alles still. Hinter mir sanken die Messer der Troer. Die Griechen weinten. Wie liebte ich meine Landsleute.
Paris vertrat mir den Ausgang. Du also, Priesterin, gestattest meinen Leuten nicht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. – Ich sagte: Nein.
Das war beinah das einzge Wort, das mir noch blieb.
Panthoos machte mich darauf aufmerksam, daß Wörter körperliche Folgen haben. Das Nein habe eine zusammenziehende, das Ja eine lösende Wirkung. Wie kam es nur, warum ließ ich es zu, wieso blieb auch Aineias derart lange aus – Panthoos näherte sich mir wieder. Obwohl wir uns nicht mehr leiden konnten.Ich wurde grundlos zornig, wenn ich ihn bloß sah – schmal, zusammengezogen, mit den Priesterfrauenkleidern, und darauf dieser große Kopf. Immer das zynische Grinsen. Ich mochte Leute nicht, denen man die Angst anroch. Er vertrug kein Mitleid, in dem Verachtung steckte. Unbemerkt von mir war wieder Frühling. Wir standen unter den Oliven im
Weitere Kostenlose Bücher