Kassandra
Daß ich nicht allesweiß. So mag es, in der Zukunft, Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.
In der Zukunft, Seherin. Ich frage nach Mykenae. Nach mir und meinen Kindern. Nach unserm Königshaus.
Ich schweige. Seh den Leichnam seines Königs, der ausblutet wie ein Stück Vieh beim Schlächter. Es schüttelt mich. Der Wagenlenker, bleich geworden, tritt zurück. Ihm muß man nichts mehr sagen.
Jetzt bin ich gleich soweit.
Wer war Penthesilea. Klar ist, daß ich ihr nicht gerecht geworden bin, und sie nicht mir. Scharfäugig und scharfzüngig, war sie mir eine Spur zu grell. Jeder Auftritt, jeder Satz eine Herausforderung an jedermann. Sie suchte unter uns nicht nach Verbündeten. Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer. Ich sah, Priamos hatte Angst vor ihr, und Eumelos umgab sie mit einem dichten Sicherheitskordon. Doch undurchdringlicher als jeder Abschirmdienst umgab sie der Schauder des gemeinen Volkes vor ihrer Unbedingtheit. Wir ahnten, doch die meisten wollten es nicht wissen: Sie hatte hinter sich, was wir noch vor uns hatten. Lieber kämpfend sterben, als versklavt sein, sagten ihre Frauen, die sie alle in der Hand hielt, mit der Bewegung ihres kleinen Fingers aufstachelte oder beruhigte, wie sie es wollte. Sie herrschte, wie nur je ein König. Diese Weiber hätten ihre eignen Männer umgebracht, flüsterten entsetzt die braven Troer. Sie seien Ungeheuer mit nur einer Brust, die andre, um den Bogen besser zu bedienen, hätten sie sich im zarten Alter ausgebrannt. Darauf erschienen sie entblößten Oberkörpers in dem Tempel der Athene, mit ihren schönen nackten Brüsten,und mit ihren Waffen. Artemis, sagten sie – so nannten sie Pallas Athene – trage selbst den Speer; sie wünsche nicht, daß wir entwaffnet zu ihr kämen. Die Priester schickten alle Troer aus dem Tempel und überließen ihn den Kriegerinnen für ihre wilden Rituale. Die töten, wen sie lieben, lieben, um zu töten, sagte Panthoos. Ich traf, merkwürdig genug, Penthesilea und Myrine bei Anchises. Sie duldeten sonst Männer nicht in ihrer Nähe. Anchises, der sie listig und vorurteilsfrei ansah, ließen sie gelten. Alle Frauen, die ich kannte, waren da. Sie wollten, sagten sie, einander kennenlernen.
Es stellte sich heraus, in vielem warn sie einig. Ich sage »sie«, denn ich hielt mich vorerst zurück. Die bewohnte Welt, soweit sie uns bekannt war, hatte sich immer grausamer, immer schneller gegen uns gekehrt. Gegen uns Frauen, sagte Penthesilea. Gegen uns Menschen, hielt Arisbe ihr entgegen.
Penthesilea: Die Männer kommen schon auf ihre Kosten.
Arisbe: Du nennst ihren Niedergang zu Schlächtern auf ihre Kosten kommen?
Penthesilea: Sie sind Schlächter. So tun sie, was ihnen Spaß macht.
Arisbe: Und wir? Wenn wir auch Schlächterinnen würden?
Penthesilea: So tun wir, was wir müssen. Doch es macht uns keinen Spaß.
Arisbe: Wir sollen tun, was sie tun, um unser Anderssein zu zeigen!
Penthesilea: Ja.
Oinone: Aber so kann man nicht leben.
Penthesilea: Nicht leben? Sterben schon.
Hekabe: Kind. Du willst, daß alles aufhört.
Penthesilea: Das will ich. Da ich kein andres Mittel kenne, daß die Männer aufhörn.
Da kam die junge Sklavin aus dem Griechenlager zu ihr herüber, kniete vor ihr hin und legte Penthesileas Hände an ihr Gesicht. Sie sagte: Penthesilea. Komm zu uns. – Zu euch? Was heißt das. – Ins Gebirge. In den Wald. In die Höhlen am Skamander. Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.
Der Satz der jungen Sklavin traf mich. Sie lebten also. Ohne mich. Sie kannten sich. Das Mädchen, das ich »junge Sklavin« nannte, hieß Killa. Oinone, schien es, die ich nie mehr in Paris’ Nähe sah, war mit ihr befreundet, sie paßten zueinander. Marpessa, die mir diente, schien in jener Welt ausdrücklich Achtung zu genießen. Ach, dabeisein können! Dieselbe helle Sehnsucht in Myrines Augen. Es war der erste offne Blick, den wir einander gönnten.
Penthesilea: Nein. – Der Funke in Myrines Augen erlosch sofort. Heftig warf ich Penthesilea vor: Du willst sterben, und die andern zwingst du, dich zu begleiten.
Das ist der zweite Satz, den ich bereue.
Wie! schrie Penthesilea. So kommst du mir! Gerade du: nicht Fisch, nicht Fleisch!
Viel hätte nicht gefehlt, dann wärn wir aufeinander losgegangen.
Und alles das hatte ich bis jetzt vergessen. Weil ich die Todessucht bei einer Frau nicht gelten lassen wollte. Und weil ihr Sterben alles, was man vorher über sie gewußt
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