Kassandra
Apollon-Hain, am Abend. Mir war aufgefallen, daß ich Panthoos nur noch in Tempelnähe sah. Ja, sagte er, jenseits dieser Hecke beginnt die Wildnis. Die Gefahr. – Ich sah ihn mir ausführlich an. Welchem Tier glich er doch jetzt. Einem Iltis, der bedroht wird. Der aus Angst die Lippen von den Zähnen hochzieht, wie im Ekel, und dabei die Eckzähne entblößt. Der angreift, weil er Angst hat. Mir wurde übel. Eine Vorstellung überkam mich, die ich nicht abwehren konnte. Leute mit Knüppeln trieben einen Iltis aus seinem Bau, durch den Tempelbezirk, jagten ihn aus dem Gehege und erschlugen ihn, der pfeifend, zischend starb. Er sah den Schrecken in meinen Augen und warf sich auf mich, begrub mich unter sich, stammelte meinen Namen an meinem Ohr, flehte um Hilfe. Ich gab ihm nach. Kam ihm entgegen. Er versagte. Aus Wut und Enttäuschung zischte er wie das Tier.
Es kam heraus, ich hatte auch ihn in jener Nacht gerettet; er war im Keller unter den gefangnen Griechen. Daß ich die Messer nicht gefürchtet hatte, konnte er mir nicht vergeben. Ihr kriegt mich nicht, zischte er. Die Griechen kriegen mich auch nicht. Er zeigte mir die Kapsel mit dem Pulver. Er behielt recht. Wir nicht, die Griechen nicht – die Amazonen haben ihn bekommen.
Penthesileas Frauen. Aineias, stellte sich jetzt heraus,hatte sie auf sicheren Wegen hergeführt. Er mit seiner weißen Hand ging neben der dunklen Penthesilea mit dem wilden schwarzen Haar, das ihr nach allen Seiten vom Kopf wegstand. Täuschte ich mich, oder hing des Aineias Blick an ihr? Dann kam Myrine, kleines Pferdchen, atemlos, am Ende eines langen Laufes, der kein Ziel mehr hatte. Auch sie ganz auf Penthesilea ausgerichtet. Was wollte die in Troia. Man sagte mir, Aineias sagte mir: Sie sucht den Kampf. Also waren wir so weit, daß ein jeder, der den Kampf sucht, Mann oder Weib, bei uns willkommen ist? Aineias sagte, ja, wir sind so weit. Sehr zurückhaltend beurteilte er die kleine, fest geschlossene Frauenschar. Zurückhaltend lagen wir nebeneinander und sprachen über Penthesilea, es war Irrsinn. Kein Wort brachte ich heraus über die Nacht, da die Griechen die Gefangnen töteten. Aineias fragte nicht. Weiß, weiß leuchtete sein Körper in der Dunkelheit. Er berührte mich. Nichts regte sich. Ich weinte. Aineias weinte. Sie hatten uns geschafft. Trostlos gingen wir auseinander. Lieber. Als wir uns später wirklich trennten, gab es keine Tränen, Trost auch nicht. Etwas wie Zorn von deiner Seite, Entschlossenheit von meiner, jeder verstand den anderen. Wir waren noch nicht miteinander fertig. So auseinandergehn, ist schwerer, leichter.
Diese Worte haben für uns keinen Sinn. Schwerer, leichter: Wie soll man solche feinen Unterschiede treffen, wenn alles unerträglich wird.
Was soll das. Was geschieht. Was wollen diese Menschen. Mein Wagenlenker führt, heimlich, scheint es, Greisinnen und Greise zu mir heran, alte Leute aus Mykenae, die sich mir mit Ehrfurcht, scheint es, nähern.Marpessa, siehst du das. – Ich sehe es, Kassandra. – Ahnst du, was die wollen. – So gut wie du. – Ich will nicht. – Sag es ihnen, doch es wird nichts nützen. – Unser Wagenlenker macht sich zum Sprecher. Sie wolln von mir das Schicksal ihrer Stadt erfahren.
Arme Menschen.
Wie sie meinen Troern ähneln.
Siehst du, Aineias, das hab ich gemeint: die Wiederholung. Die ich nicht mehr will. Der du dich ausgeliefert hast.
Sag ich denen, ich weiß nichts, werden sie mir nicht glauben. Sag ich, was ich vorausseh, wie es jeder könnte, bringen sie mich um. Das wär das Schlimmste nicht, doch ihre eigne Königin würde sie dafür strafen. Oder habe ich hier, anders als zuletzt in Troia, keine Überwacher. Sollte ich in der Gefangenschaft frei sein, mich zu äußern. Liebe Feinde. Wer bin ich, daß ich in euch nur die Sieger, nicht auch die, die leben werden, seh. Die leben müssen, damit, was wir Leben nennen, weitergeht. Diese armen Sieger müssen für alle, die sie getötet haben, weiterleben.
Ich sage ihnen: Wenn ihr aufhörn könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehn.
Gestatte eine Frage, Seherin – (Der Wagenlenker.) – Frag. – Du glaubst nicht dran. – Woran. – Daß wir zu siegen aufhörn können. – Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte. – So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet, der Untergang in unsere Natur gelegt.
Die Frage aller Fragen. Was für ein kluger Mann.
Komm näher, Wagenlenker. Hör zu. Ich glaube, daß wir unsere Natur nicht kennen.
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