Kaste der Unsterblichen
in Keil. (Dies war nun ihr statistisches Alter, bis sie entweder den Aufstieg in Amarant schaffte oder aber die schwarze Limousine vor ihrer Tür hielt.)
Sie befaßte sich mit einem speziellen Studium zeitgenössischer Musik, das auf der ursprünglichen Theorie des musikalischen Symbolismus basierte. Ihre Arbeit war so erfolgreich, das sie im Alter von siebenundsechzig Jahren in Dritte eingestuft wurde.
Sie wurde beigeordnete Professorin für Musiktheorie in der Charterburgh-Universität, trat jedoch nach vier Jahren zurück, um sich ganz dem Komponieren zu widmen. Der Alte Gral , eine passionato Orchestersuite, die die Intensität ihrer eigenen Persönlichkeit widerspiegelte, hob sie mit zweiundneunzig in die Stufe Rand. Da ihr nunmehr etwa dreißig weitere Jahre für den Aufstieg in Amarant zur Verfügung standen, setzte sie sich ein Jahr lang zur Ruhe, um sich zu entspannen, nachzudenken und nach neuen Stimuli Ausschau zu halten.
Sie hatte sich schon immer für die komplizierte Kultur des Inselkönigreichs Singhalien interessiert und faßte trotz der anscheinend unüberwindlichen Hindernisse und großen Gefahren den Entschluß, das Jahr, das sie sich selbst zugesprochen hatte, unter den Singhali zu verbringen.
Sie traf sorgfältige Vorbereitungen, lernte die Sprache und machte sich mit den Gebräuchen und rituellen Haltungen vertraut. Sie erwarb eine Singhaligarderobe und färbte sich die Haut. Sie beschaffte sich einen Luftwagen mit eigener Energiequelle. (Die gewöhnlichen Fahrzeuge von Clarges wurden drahtlos mit Betriebsenergie versorgt und konnten nur wenige Kilometer über die Grenzen der Enklave hinausfliegen.) Als ihre Vorbereitungen abgeschlossen waren, verließ sie Clarges und zog ins Fremdland der Barbaren hinaus, wo sie ständig in Lebensgefahr schweben würde.
In Kandesta gab sie sich als Zauberin aus und erlangte mit Hilfe einiger wissenschaftlicher Tricks eine gewisse Reputation. Als der Grande von Gondwana sie in sein Piratenimperium einlud und ihr sicheres Geleit zusicherte, sagte sie sofort zu und war äußerst neugierig. Die ursprünglich eingeplante Zeit ging zu Ende, aber sie war so sehr von den gondwanesischen Künstlern und ihrer Auffassung, die Leben mit Kreativität gleichsetzte, fasziniert, daß sie vier Jahre blieb. Viele Aspekte der gondwanesischen Lebensweise fand sie abstoßend, insbesondere die Gleichgültigkeit gegenüber menschlicher Pein. Die Jacynth war eine gefühlsbetonte, äußerst sensible Frau, und während der ganzen Zeit, die sie außerhalb der Enklave verbrachte, litt sie an einer chronischen Übelkeit. In Tonpengh besuchte sie, nichts Böses ahnend, die Zeremonien in der Großen Stupa, und dieses Erlebnis schockierte sie zutiefst. In einer heftigen Gefühlsaufwallung floh sie aus Gondwana und kehrte zur Enklave zurück. Als sie dort ankam, war sie einem Nervenzusammenbruch nahe.
Sechs Monate in der wohlgeordneten und isolierten Sicherheit von Clarges stellten ihr seelisches Gleichgewicht wieder her, und die nächsten Jahre waren ihre produktivsten. Sie veröffentlichte ihre Studie der gondwanesischen Kunst und brachte Filmessays über verschiedene Einzelthemen heraus: die gondwanesische Musik; die Korallengärten, die von Sklaventauchern gepflegt wurden; die Segel der gondwanesischen Tigerboote, die mit Färbmustern von fast mikroskopischer Kompliziertheit versehen waren; die Tänze auf dem Gipfel des Mount Valakunai, die niemals aufhörten, damit Sonne, Mond und Sterne nicht ebenfalls ein Ende fanden.
Im Alter von einhundertvier Jahren stieg sie in Amarant auf und wurde Die Jacynth Martin.
Die neue Jacynth war ein neunzehnjähriges Mädchen und nicht nur einfach eine verjüngte Neuausgabe der hundertvierjährigen Frau. Sie war ausgestattet mit dem Wissen, den Erinnerungen und der Persönlichkeit der alten Jacynth Martin, doch in ihrem Wesen ließen sich auch ohne Schwierigkeiten Lücken und Unterscheidungspunkte finden. Andererseits handelte es sich bei der neuen Jacynth aber nicht um eine andere Person. Ihr Charakter wies keine Elemente auf, die nicht schon bei der alten Jacynth vorhanden gewesen wären – sie war zugleich ein komplettes und doch nicht vollständiges Ebenbild der früheren Frau.
Die neunzehnjährige Jacynth Martin wohnte in einem schlanken, geschmeidigen Körper von überaus reizvollem Erscheinungsbild. Aschblondes Haar fiel weich und hell auf ihre Schultern. Ihr Gesicht drückte Offenheit und Lebhaftigkeit aus, aber auch eine gewisse Tücke.
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