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Kastner, Erich

Kastner, Erich

Titel: Kastner, Erich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die verschwundene Miniatur
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Herren sah ungefähr wie ein Heldentenor aus, der sich seit seinem vierzigsten Jahre mit Rotwein statt mit Gesang beschäftigt hat. Nicht mit dem Anbau des Rotweins, sondern mit dessen Verbrauch. Die Nase konnte – will man sich eines musikalischen Ausdrucks bedienen – ein Lied davon singen. Sie war blaurot und erinnerte an Frostbeulen.
    Der andere Herr war klein und unterernährt. Auch sein Gesicht war nicht mehr ganz neu. Die Ohren saßen ungewöhnlich hoch am Kopf. Wie bei einer Eule. Zudem standen sie ab, und der Sonnenschein machte sie transparent.
    »Sicher eine bestellte Sache«, meinte der Tenor. Seine Stimme klang genauso, wie seine Nase aussah.
    Der Kleine schwieg.
    »Es soll wie ein zufälliges Zusammentreffen wirken«, fuhr der andere fort. »Ich glaube nicht an Zufälle.«
    Der kleine Herr mit den verrutschten Ohren schüttelte den Kopf.
    »Es ist trotzdem Zufall«, meinte er. »Daß der alte Steinhövel dem Mädchen jemanden schickt, ist denkbar. Daß er einen Riesen schickt, der in Kopenhagen als Tiroler auftritt, ist Blödsinn. Ebensogut könnte er dem Kerl ein Schild umhängen und draufschreiben, worum sich’s handelt.«
    »Wäre mir entschieden lieber«, sagte der Rotweinspezialist.
    »Immer diese Unklarheiten.«
    Der Kleine lachte. »Du kannst ja rübergehen und fragen.«
    Der andere knurrte, trank sein Glas leer und füllte es wieder.
    »Und warum hat sie ihr Hotelzimmer noch nicht gekündigt?«
    »Weil sie erst morgen abreist.«
    »Und weil sie auf den Tiroler gewartet hat! Paß auf, ich habe recht! So wahr ich Philipp Achtel heiße!«
    »Ach, du himmlische Güte!« Der Kleine kicherte. »So wahr du Philipp Achtel heißt? Nur genauso wahr?«
    Herr Achtel wurde ärgerlich. »Laß deine Anspielungen!« sagte er.
    Seine Stimme klang noch verrosteter als vorher. Und er fuhr sich nervös mit der Hand übers Haar.
    »Es ist schon ganz hübsch nachgewachsen«, erklärte der Kleine und zwinkerte belustigt. »Man sieht dir wirklich nicht an, daß du noch gar nicht lange aus dem Sanatorium zurück bist.«
    »Halte deine Schandschnauze!« sagte Herr Achtel. »Der Tiroler frißt übrigens wie ein Scheunendrescher.«
    Der Kleine stand auf. »Ich rufe den Chef an. Mal hören, was er von Scheunendreschern hält.«
    Beharrlich vertilgte Fleischermeister Külz eine Scheibe Wurst nach der andern. Aber es war eine Sisyphusarbeit. Schließlich legte er Besteck und Serviette beiseite, blickte unfreundlich auf die Platte, die noch reich beladen war, und zuckte die Achseln. »Ich geb’s auf!«
    murmelte er und lächelte dem hübschen Fräulein zu.
    »Hat’s geschmeckt?«
    Er nickte ermattet. »Alles, was recht ist. Die Dänen verstehen was von Wurst.«
    Der Oberkellner kam und räumte ab.
    Külz holte eine Zigarre hervor und rauchte sie voller Empfindung an. Dann schlug er ein Bein übers andre und meinte: »Wenn mich meine Alte hier sitzen sähe!«
    »Warum haben Sie denn Ihre Frau Gemahlin nicht mitgebracht?«
    erkundigte sich das Fräulein. »Mußte sie im Geschäft bleiben?«
    »Nein, es war eigentlich anders«, erwiderte Külz elegisch. »Sie weiß gar nicht, daß ich in Kopenhagen bin.«
    »Meine Söhne wissen auch nichts davon«, fuhr er verlegen fort.
    »Meine Töchter auch nicht. Meine Schwiegersöhne auch nicht. Meine Schwiegertöchter auch nicht. Meine Geschwister auch nicht.
    Meine Enkel auch nicht.« Er machte eine Atempause. »Ich bin einfach getürmt. Schrecklich, was?«
    Das Fräulein hielt mit ihrem Urteil zurück.
    »Ich konnte plötzlich nicht mehr«, gestand Herr Külz. »Am Sonnabendabend ging’s los. Wieso, weiß ich selber nicht. Wir hatten im Laden viel zu tun. Ich ging über den Hof und wollte im Schlachthaus einen Spieß Altdeutsche holen. Ich blieb vor den Schlachthausfenstern stehen. Der zweite Geselle drehte Rindfleisch durch den Wolf. Wir verkaufen nämlich sehr viel Geschabtes. Ja, und da sang eine Amsel.« Er strich sich den buschigen Schnurrbart. »Vielleicht war gar nicht die Amsel daran schuld. Aber mit einem Male fiel mir mein Leben ein. Als hätte der liebe Gott auf einen Knopf gedrückt.
    Zentnerschwer legten sich alle Kalbslenden, Rollschinken, Hammelkeulen und Schweinsfüße der letzten dreißig Jahre auf meine Seele.
    Mir blieb die Luft weg!« Er zog nachdenklich an der Zigarre. »Mein Leben ist natürlich nichts Besondres. Aber mir hat’s genügt. Immer wenn man dachte: ›Nun hast du dir ein paar Groschen gespart‹, wollte eines der Kinder heiraten. Und dann mußte

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