Katakomben (Van den Berg) (German Edition)
Haare. Er sah viel jünger aus als 45, und das wusste er auch.
Nicoles Persönlichkeit hatte viele Facetten. Sie kam aus einem streng katholischen Elternhaus, ihre Schulzeit verbrachte sie größtenteils in einem Brüsseler Eliteinternat. Ihr Leben änderte sich schlagartig, als sie das Studium in die großen Metropolen brachte – sie verlor ihre Naivität und lernte die Spielregeln des Erfolges. An der Sorbonne begann Nicole, sich für Geschichte, Philosophie und moderne Kunst zu interessieren. Sie legte sich einen stattlichen Bekanntenkreis zu, mit Universitätsprofessoren, Künstlern, Managern und Musikern. Die meisten Kontakte waren oberflächlich – niemand wusste, wie Nicole wirklich tickte.
Dass die junge Frau nicht nur schön, sondern auch mit großer Intelligenz gesegnet war, erkannten die Menschen, die sie kennenlernten, schon nach kurzer Zeit. Aber das war schon das Einzige, das sie begriffen.
Nicoles herausstechende Eigenschaft war ihr Ehrgeiz. Schon in der Schule wollte sie immer die Beste sein und in der Regel erreichte sie das mit beeindruckender Leichtigkeit. Sie war so charmant, dass sie die Menschen blitzschnell um den Finger wickeln konnte. In Paris und Barcelona sprengte sie die Ketten, die ihr die Eltern angelegt hatten. Sie umgab sich mit Männern, die ihr die Eltern garantiert verboten hätten. Nicole stürzte sich in Affären und holte das nach, was ihr in den Jahren zu Hause verwehrt geblieben war. Manche Liaison drang bis in Nicoles vornehmes Brüsseler Elternhaus. Die Beziehung zu ihrem Vater bekam dadurch tiefe Risse.
„Also wenn ihr mich fragt, haben wir es mit einem Geistesgestörten zu tun“, rief van den Berg den Kollegen zu, die ihn im Sitzungszimmer erwarteten. Aber was ist schon geistesgestört, fragte er sich im gleichen Moment. Die anderen Polizisten signalisierten mit ihrem synchronen Nicken, dass sie im gleichen Moment exakt die gleiche Erkenntnis hatten. Allein Nicole signalisierte Skepsis. Van den Berg war klar, dass sie ihre Gedanken ebenso wenig in der Gruppe diskutieren wollte, wie er. „Frank und Robby, ihr geht sämtliche Tötungsdelikte in Brüssel der letzten fünf Jahre durch. Nehmt euch vor allem die Sachen vor, die richtig krank sind. Schaut, ob ihr irgendwelche Sachen findet, die mit Kirchen zu tun haben. Und die Tötungsdelikte, bei denen Gift im Spiel ist. Dann brauchen wir schnellstens eine Liste mit den Leuten, die infrage kommen, vor allem mit vorbestraften Jungs, die draußen rumlaufen. Und zwar schnell – und ich meine schnell.“ Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie mit routinemäßiger Recherche nicht weiterkamen. Die Runde löste sich auf. Van den Berg zog sich mit Deflandre und Nicole eilig in sein Büro zurück. Die Blicke der beiden Männer richteten sich auf die Psychologin.
„Ich glaube nicht an einen Verrückten“, sagte sie lakonisch. „Ich denke, der Täter geht sehr überlegt und strukturiert vor. Er hat sein Opfer bis vor die Kathedrale geschleppt, außerdem hat er am Tatort keine Spuren hinterlassen. Gut, das hat natürlich auch mit dem Wetter zu tun …“ „Dass er klug vorgegangen ist, schließt doch nicht aus, dass er geisteskrank ist“, wandte van den Berg ein. „Ein Psychopath ist nicht geisteskrank“, entgegnete Deflandre. „Eric hat recht“, bestätigte Nicole. „Ein Psychopath ist in der Lage, ganz logisch zu denken, aber er pfeift auf gesellschaftliche Normen und er kennt kein Mitgefühl. Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der von etwas besessen ist, der etwas mitteilen will und der offensichtlich ein Spiel spielen will. Der Mann, den wir suchen, schiebt Gesetz und Moral beiseite - er spielt nach eigenen Regeln.“
„Meinst du nicht, das ist etwas mutig, nach dem, was wir bis jetzt wissen?“ „Wenn es dem Mörder nur darum gegangen wäre, zu töten, hätte er es viel einfacher haben können. Warum hat er die Kathedrale ausgesucht? Für den Täter war es ein großes Risiko, entdeckt zu werden. Nein, ich bin sicher, da steckt viel mehr dahinter.“
Freddy De Breuyn kam ins Büro – er stolperte über seine offenen Schnürsenkel, konnte es aber so gerade noch verhindern, den Boden zu küssen. Der Polizist war 56 und galt im Kommissariat als eine Art Unikum. Wegen seines unbeholfenen Auftretens wurde ihm meist der Schreibkram zugeschoben, also jene Arbeit, vor der sich die meisten Polizisten gerne drückten. De Breuyn war zwar ungelenk im Umgang mit Menschen, wenn es aber um das Recherchieren von
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