Kates Geheimnis
sich um einen kleinen, unauffälligen Grabstein.
Guter Gott. Sie war über ein Grab gestolpert! War das nicht ein schlechtes Omen?
Jill wollte schon aufstehen. Ihre Zähne klapperten.
Doch stattdessen kroch sie näher heran und befreite den kleinen Stein von dem Unkraut. Er war keinen halben Meter hoch und schwarzgrau. Wie die Steine des Turms.
Jill lief ein Schauer über den Rücken, aber schließlich war sie nass und fror, und es hatte wieder zu nieseln begonnen.
Während sie Gräser und Moos ausriss, stießen ihre Finger auf eine eingemeißelte Inschrift. Jill kroch noch näher heran. Ihr blieb die Luft weg.
Jill starrte ungläubig auf die Worte, die vor ihren Augen verschwammen, und ihr Herz schlug so heftig, dass ihr davon schwindlig wurde.
»Katherine Adeline Gallagher«, stand darauf.
»10. Juni 1890 – 12. Januar 1909.«
452
Dritter Teil
Der Turm
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Fünfzehn
W ie unter Schock starrte Jill reglos auf den Grabstein. Sie konnte die Augen nicht von dem Todesdatum abwenden - der zwölfte Januar 1909. Sie bekam kaum noch Luft und keuchte schwer.
Kate war 1908 nicht einfach verschwunden, sie war bald darauf gestorben, und hier war der himmelschreiende Beweis dafür.
Plötzlich ließ Jill sich vor dem Grabstein auf die Knie zurücksinken, schloss die Augen und kämpfte gegen heiße Tränen an. Kate, die so jung, so wunderschön, so leidenschaftlich und lebendig gewesen war, war mit achtzehn Jahren gestorben.
Aber warum überraschte sie das? Sie hatte doch schon seit einiger Zeit und vor allem seit der letzten Nacht dieses furchtbare, grauenhafte Gefühl gehabt, dass Kate etwas Schreckliches zugestoßen war. Und sie hatte Recht damit.
Was war geschehen? Und warum?
Jill fuhr sich mit der Hand über die Augen. Hal hatte im Sterben nicht gesagt, dass er sie liebte, er hatte ihr gesagt, dass er Kate liebte. Jetzt rang sie umso mehr nach Luft. Die Wahrheit war unübersehbar, und sie war unausweichlich.
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Sie hatten sich in der U-Bahn kennen gelernt.
Zumindest hatte Jill das geglaubt. Aber Lauren hatte darauf beharrt, dass Hal sie in ihrem Fitness-Studio getroffen hatte. Hatte er sie dort beobachtet und sie ausgewählt, weil sie Kate ähnlich sah? Hatte er sie ausgewählt, weil er wusste, dass sie Kates Urenkelin war?
Natürlich hatte er das .
Jill wollte nicht weinen. Sie hatte geglaubt, die tränenreichen Ausbrüche seien vorüber, ihre Tränen versiegt. Aber jetzt brachen sie
sich Bahn. Still weinte sie um ihr anderes Ich, um die Jill, die es nicht mehr gab, die junge Frau, die so naiv gewesen und einem sehr verwirrten und gequälten Mann all ihre Liebe und ihr volles Vertrauen geschenkt hatte.
»Jill? Was ist?«
Sofort erkannte Jill Alex’ Stimme; er eilte zu ihr, und seine Stiefel gaben auf dem nassen Gras ein lautes Quietschen von sich. Sie wollte nicht, dass er sie so sah. Er würde es nicht verstehen; er würde glauben, sie weinte um Hal. Rasch fuhr sie sich übers Gesicht.
Er zog sie auf die Füße, drehte sie um und riss sie in seine Arme. Jill rührte sich nicht. Sie konnte nicht.
Nicht nur, weil sie völlig überrumpelt war, sondern vor allem, weil er sich so gut, so absolut richtig anfühlte.
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Sie wusste nicht, wie lang sie da in seinen Armen lag, aber sie vergaß den Grabstein, vergaß Kate. Er hielt ihren Hinterkopf, der in einer Baseball-Kappe steckte, schützend in seiner großen Hand. Diese Geste war unglaublich tröstlich - so hielt eine Mutter den wiechen, warmen Kopf ihres Babys.
Aber sie wussten beide, dass sie kein kleines Kind war. Seine Hand rutschte tiefer, zu ihrem bloßen Nacken. Die Berührung war elektrisierend. Und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie vom Kopf bis zu den Zehen an ihn gedrückt dastand; sie hatte sich auf ganzer Länge gegen seinen straffen, starken Körper gepresst. Einen weiteren Herzschlag lang blieb sie reglos stehen, während ihr Geist wieder zu arbeiten begann. Ich will das hier, dachte sie. Ich will ihn. Widerwillig trat sie zurück.
Sein Blick suchte forschend ihre Augen, ihr Gesicht ab.
Einen Moment lang konnte sie die Augen nicht abwenden. Dann drehte sie sich weg und streckte eine zitternde Hand aus: »Schau.« Er folgte ihrem Blick.
Er hielt eine kleine, stabförmige Taschenlampe in der Hand, und nun ging er an ihr vorbei, kniete sich hin und richtete das Licht auf den Grabstein. Er schwieg.
Es wurde immer dämmriger. Das Nieseln hatte aufgehört und die heraufziehende bläulich schwarze Nacht dem dichten Nebel
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