Kates Geheimnis
herunterzog.
Das lebensgroße Porträt in Öl lag auf der Seite.
Aber es war sofort klar, wen das Bild darstellte. Kate saß auf dem Gras in einem Garten, der an einem besonders sonnigen Tag mit blühenden Tulpen übersät war. Sie war atemberaubend schön. »Alex!«
»Ich seh’s«, sagte er und trat hinter sie.
»Hilf mir, es rauszuholen«, rief Jill aufgeregt und drehte sich um, um die Kisten wegzuräumen. Kurz darauf hatten sie genug Platz geschaffen und lehnten das Bild richtig herum gegen die Kisten. »Das ist ja unglaublich«, rief Jill mit wild klopfendem Herzen.
»Oh mein Gott. Sieh nur, was wir gefunden haben!«
Alex schwieg.
Jill betrachtete Kate wie gebannt, und plötzlich fiel ihr Kates unbeschreiblich sinnlicher Gesichtsausdruck auf. Sie erstarrte. Kates dunkle Augen wirkten fast schwarz, erotisch schwül und lockend. Ihr voller Mund war leicht geöffnet, als habe sie gerade Luft geholt oder als wolle sie etwas sagen. Kate war vollständig bekleidet, aber dieser Ausdruck auf ihrem 492
Gesicht ließ das Bild alles andere als unschuldig wirken. Es war keine Frage, woran sie gerade dachte.
Und auf einmal fielen Jill die Fotos ein, die Hal von ihr gemacht hatte. Erschüttert trat sie von dem Bild zurück. Er hatte ihr Gesicht genauso wirken lassen.
»Was ist los?«
Ihre gute Laune war verflogen. Jill zog es den Magen zusammen, und sie konnte sich nicht rühren, ihm nicht einmal antworten. Sie sah ihrer Urgroßmutter so ähnlich, dachte sie, und starrte gebannt auf das Bild.
Starrte wie verhext auf Kate.
»Jill? Woran denkst du?«
Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Kate schaute dem Betrachter aus dem Garten entgegen, aber sie sah ihn nicht direkt an. Jill wusste, dass sie Edward anschaute, der neben dem Maler stand und sich ansah, welche Fortschritte das Bild seiner Geliebten machte. Jill konnte sie ganz deutlich sehen.
Edward trug eine helle Weste, er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und ließ seine Augen immer wieder zwischen Kate und der Leinwand hin und her wandern. Er lächelte, zufrieden und erfreut.
Der Künstler, ein jüngerer Mann, war in seine Arbeit versunken und hatte nur Augen für Kate. Und Kate mit ihrem angedeuteten Lächeln und diesem verträumten, verlangenden Blick hatte nur Augen für ihren Liebsten.
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Zwischen ihnen tobte ein ganzer Funkensturm.
»Jill.«
Jill fuhr zusammen. Alex war hinter sie getreten, und sie hatte es gar nicht bemerkt. Sie drehte sich zu ihm um. »Welch ein Kunstwerk.«
»Ja.«
»Sie ist so wunderschön. Es ist doch ganz klar, dass Edward - und jeder andere Mann - sich unsterblich in sie verlieben musste.«
»Ist denn Schönheit nur etwas Äußerliches?«
Sie sah ihm direkt in die Augen. »Natürlich nicht.
Aber wir wissen doch auch, dass sie mutig und waghalsig war und nicht viel auf Konventionen gab -
sie war einfach bewundernswert. In einer Gesellschaft, in der so strenge Moralvorstellungen herrschten, muss sie wie eine köstliche frische Brise gewirkt haben. Die Männer haben sie wahrscheinlich umschwärmt wie die Motten das Licht.«
»Da hast du Recht.«
Etwas in seiner Stimme machte sie stutzig, und sie starrte ihn an. »Hättest du dich in sie verliebt?«, fragte Jill impulsiv. »Wenn du damals gelebt hättest?« Sie hoffte - verzweifelt , dass er das verneinen würde.
»Ich weiß nicht. Kann ich nicht sagen. Vielleicht, wenn sie wirklich so war.«
»Das war sie.« Jill war sicher.
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»Du bist viel zu romantisch veranlagt, Jill. Hat dir das noch nie jemand gesagt?« Er heftete den Blick auf ihr Gesicht.
»Ich bin doch nicht romantisch!« Jill fand das nicht komisch.
»Du hast Kate total romantisiert. Sie verherrlicht.
Vielleicht war sie nur ein rebellischer Teenager, genauso unreif wie die meisten Mädchen in dem Alter.« Er hob die Brauen. »Vielleicht hat sie eine falsche, kindische Entscheidung getroffen, ohne an die Konsequenzen zu denken, und sich in eine Affäre gestürzt - in einer Ära, in der so etwas nur Kummer und Zerstörung bringen konnte.«
»Nicht«, sagte Jill leise. Sie wandte sich wieder dem Bild zu. Alex’ Worte hallten in ihr nach -
Kummer und Zerstörung. Jill zweifelte nicht daran, dass die Affäre Kate zerstört hatte. »Ist es denn so schlimm, wenn ich sie verkläre?«, fragte sie schließlich.
Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Ich fange an, das zu glauben.«
Sie wollte nicht wissen, was er damit meinte. Sie studierte das Gemälde und vertiefte sich jetzt in die
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