Kates Geheimnis
Gesellschaft von Damen und Herren brach gerade auf, aber eine junge Dame mit einem riesigen weißen Hut und einem hübschen weißen Batistkleid blieb hinter ihnen zurück, umklammerte ihren Sonnenschirm und sah Kate verstohlen an. Die übrige Promenade wie auch der Strand waren nun menschenleer,
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obwohl einige Pärchen und junge Burschen am Pier herumlungerten. Es war später, als Kate gedacht hatte.
Sie würden zweifellos zu spät zum Essen kommen, und alle würden sich hinter ihrem Rücken flüsternd darüber echauffieren. Kate seufzte.
Sie ging über den groben Sand auf die Promenade zu. Die andere junge Frau war stehen geblieben, hinter ihre Gesellschaft zurückgefallen, und Kate sah, dass sie etwa in ihrem Alter war, also um die sechzehn. Sie hatte dunkles Haar und blaue Augen und ebenso helle Haut wie Kate. Die Blicke der Mädchen trafen sich.
Kate lächelte.
Das andere Mädchen sagte vorsichtig: »Haben Sie denn keine Badekleidung?«
»Aber natürlich«, antwortete Kate, ohne zu zögern und in freundlichem Tonfall. »Aber warum sich um diese Stunde noch die Mühe machen, sie anzuziehen?«
»Ihr Kleid ist vermutlich ruiniert«, sagte die andere.
Kate schaute an sich herunter und lächelte bedauernd. »Dieses Kleid hat mir sowieso nie gefallen.«
Das Mädchen lachte. »Sie sind Amerikanerin.«
»Und Sie sind eine Br... und Sie sind Engländerin«, gab Kate sofort zurück.
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Das dunkelhaarige Mädchen lächelte. »Das ist wohl kaum außergewöhnlich. Wir sind schließlich in Brighton.« Sie sprach mit jenem perfekten, gepflegten Akzent der englischen Upper-Class.
»Ich bin mit meiner Mutter hier. Wir machen Urlaub«, erklärte Kate.
Das andere Mädchen zögerte und ging neben ihr her. »Wie nett. Waren Sie schon einmal in Brighton?«
»Nie. Eigentlich« - Kate lächelte sie an - »will meine Mutter, dass ich mir hier einen Ehemann suche, und das ist der Grund, warum wir hier sind.«
Die Augen der anderen weiteten sich, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle, und die Überraschung schwand aus ihrem Gesicht. »Nun ja ... wir müssen alle heiraten, früher oder später.«
»Und warum?«, lachte Kate. »Weil es das ist, was unsere Eltern erwarten?«
Das Mädchen blieb stehen und starrte sie an, als sei sie ein Kalb mit drei Köpfen. »Aber natürlich müssen wir heiraten und Kinder bekommen.«
»Das ist sehr altmodisch gedacht«, sagte Kate spitz, aber nicht bösartig. »Sie sind nicht eine von diesen Br... Engländerinnen mit einem tollen Titel, oder?
Dann stehen Sie wirklich unter großem Druck, nicht wahr?«
»Ich bin Lady Anne Bensonhurst, und ich denke doch, dass ich damit etwas unter Druck stehe.« Ihr Ton war jetzt sehr zurückhaltend.
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»Also, ich bin Miss Kate Gallagher«, sagte Kate und streckte die Hand aus, eine absichtlich draufgängerische und männliche Geste. »Und Sie sollten etwas von Miss Susan B. Anthony lesen.«
Anne zögerte und ergriff ihre Hand. Sie lächelte ein wenig. »Es ist mir ein Vergnügen«, sagte sie. »Wer ist Miss Susan B. Anthony?« »Eine
außergewöhnliche Frau - eine Frau, der ich im Laufe meines Lebens nachzueifern hoffe.«
Anne Bensonhurst sah sie verständnislos an.
Kate war ein sehr ungeduldiges Mädchen, aber jetzt schien ihre Geduld grenzenlos, und sie fügte hinzu:
»Sie war eine Suffragette und eine begnadete Vordenkerin, meine Liebe. Sie glaubte, dass Frauen den Männern gleichgestellt seien - in jeder Hinsicht.«
Anne riss die Augen auf. Sie gingen einen Moment schweigend nebeneinander her, dann fragte Kate:
»Für wie lange sind Sie in Brighton?« Sie waren nicht mehr weit von Mary entfernt, und diese nette Unterhaltung würde gleich enden. Kate graute vor dem restlichen Abend.
»Nur noch ein paar Tage. Ich habe in der Stadt so viel zu erledigen. Wissen Sie, ich debütiere in dieser Saison.« Anne lächelte, offenbar hoch erfreut über diese Aussicht.
»Wie reizend«, sagte Kate und bemitleidete sie. Sie würde im Nu verlobt werden und kein Wort dazu zu sagen haben, da war Kate ganz sicher.
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Anne zögerte.
»Wenn ich mal heirate«, sagte Kate bestimmt,
»dann nur aus wahrer Liebe, und wenn ich noch zehn Jahre darauf warten muss.«
Anne schaute sie groß an. »Sie müssen sehr mutig sein«, sagte sie. »Denn niemand heiratet aus Liebe, oder doch fast niemand.«
Kate lachte. »Ich weigere mich, das zu tun, was alle tun. Wissen Sie denn nicht, dass das Leben viel zu kurz ist, um sich von dummen, sinnlosen
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