Kates Geheimnis
wärest, würden sie uns nicht so anstarren! Jeder hat gesehen, wie du gestern zu diesem Gentleman hinübergegangen bist und eine Unterhaltung mit ihm angefangen hast«, klagte Mary.
»Sein Krocket-Partner hat ihn im Stich gelassen.
Warum sollte ich nicht vorschlagen, seinen Platz einzunehmen?«
»Das war bei weitem zu vieldeutig. Damen bieten sich keinem Gentleman an.«
»Ich habe mich ihm kaum angeboten«, sagte Kate lachend. »Ich wollte doch nur mitspielen. Mutter, selbst wenn ich prüde und ehrbar wäre, würden sie uns anstarren. Ich bin kein Brit. Wir sind Neureiche.
Und alle wissen das.«
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»Du sollst dieses Wort nicht gebrauchen! Es ist so
... so ... hässlich.«
»Welches Wort? Brit ... oder Neureiche? Ich gehe an den Strand. Komm mit, wenn du willst«, rief Kate und rannte eine Rampe hinunter, die Röcke ein gutes Stück über ihre bestrumpften Unterschenkel gerafft.
»Kate. Komm zurück! Du wirst dich überall mit Sand beschmutzen, und das Dinner beginnt um acht!«
Kate sauste lachend über den Strand. Sie nahm ihre Mutter absichtlich nicht zur Kenntnis - sie fürchtete, andernfalls genau so zu werden wie sie. Es wehte eine frische, salzige, herrliche Brise, die an ihrem Hut zerrte. Sie blieb nicht stehen, ignorierte die Blicke der letzten Badenden, die ihre Sachen zusammenpackten.
Damen und Herren starrten Kate an, als sie an ihnen vorbeirannte.
Alle waren so langweilig.
Wer konnte ein solches Leben aushalten? Von Regeln gefesselt und geknebelt? In ständiger Angst davor, was die anderen denken könnten?
Schließlich flog ihr der weiße Strohhut vom Kopf.
Kate blieb stehen, um ihren weißen Sonnenschirm zu schließen, den Hut aufzuheben und unter den Arm zu klemmen. Ihr Haar, mehr als schulterlang, rot und lockig, rutschte ihr aus dem Knoten. Kate kümmerte es nicht. Sie schüttelte den Kopf, damit er sich endgultig auflöste, und als das Haar ihr frei über die Schultern fiel, hüpfte sie zum Wasser hinunter, wobei 255
sie nun doch kleine Steinchen in die Schuhe bekam.
Die Wellen rauschten auf sie zu, und sie wartete bis zum allerletzten Augenblick, bevor sie zurückrannte, um ihnen zu entkommen. Ihre feinen weißen Lederschuhe blieben wundersamerweise trocken.
Kate lachte, sie fühlte sich frei und glücklich. Wenn sie es sehr klug anstellte, würde sie es schaffen, sich diesen Sommer zu amüsieren, und sie würde es auch vermeiden können, sich mit irgendeinem sterbenslangweiligen Briten verloben zu müssen.
Wieder tanzte Kate auf die Wellen zu und wartete bis zur letzten Sekunde, bis sie vor der Brandung zurückwich. Genau in diesem Moment schaute sie intuitiv zur Promenade zurück, aber nicht zu ihrer Mutter, die auf einer hölzernen Aussichtsplattform auf sie wartete. Der schneidige, dunkle Gentleman stand am Rand der Promenade; er lehnte als große Silhouette an dem eleganten schmiedeeisernen Geländer und starrte in ihre Richtung.
Kates Herz schien einen Schlag auszusetzen, sie stolperte. Atemlos wandte sie ihm den Rücken zu, und da war es zu spät: Eine Welle ergoss sich schäumend über ihre Schuhe und ihren Rocksaum.
Ihre Wangen glühten.
Er beobachtete sie. Da gab es keinen Zweifel.
Und das Wasser war kalt. Während die Brandung rasch wieder zurückfloss, zog Kate lächelnd ihre Schuhe aus. Was für eine Erleichterung, und nicht nur 256
wegen der Steinchen. Sie schlang die Arme um sich und drehte sich in einem schwindeligen Freudentanz.
Vielleicht würde Brighton - und Großbritannien -
doch nicht so langweilig werden. Sie riskierte einen weiteren Blick zur Promenade. Der Fremde hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
Sie spielte noch eine Weile Fangen mit den Wellen, bis sie ganz außer Atem war, die Wangen erhitzt, ihr Korsett und die Haut zwischen ihren Brüsten feucht -
sie war sich bewusst, dass er da stand und ihr zusah.
Ihre Strümpfe waren jetzt nicht nur patschnass, sondern zerrissen und schmutzig. Auch der Saum ihres Kleides war voll Wasser und nassem Sand. Die Sonne sank endlich - es wurde dunkler. Schließlich blickte Kate doch zu ihrer Mutter auf der Plattform.
Mary winkte ihr ungeduldig. Kate wusste, was sie wollte, aber sie rührte sich nicht. Der Unbekannte ging langsam fort, die Promenade hinunter auf die King’s Road zu. Hatte er sie die ganze Zeit über beobachtet? Kate lächelte.
Sie wusste, dass ihre Mutter wahrscheinlich nach ihr rief, also hob sie seufzend ihre Sachen auf und ging gemächlich auf die Promenade zu. Die letzte
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