Kates Geheimnis
wurde rot und wandte sich erneut ab.
»Vielleicht ist das Leben zu kurz für alberne 271
Spielchen.« Er hatte ihre Frage nicht wirklich beantwortet.
»Verdammt richtig«, sagte Alex und schob die Hände in die Taschen. »Ich bin hergekommen, um dich in London willkommen zu heißen, weil du ja hier praktisch niemanden kennst, und wenn du willst, werde ich dir helfen, Kate zu finden.«
Jill nickte, aber sie war immer noch misstrauisch.
Sie hatte sich geschworen, dass sie sich auf niemanden mehr verlassen würde, nur auf sich selbst.
Aber eine innere Stimme redete auf sie ein, schubste sie vorwärts und sagte: Warum nicht? Warum sollten wir keine Freunde sein? Zwar stand Hals Tod noch immer zwischen ihnen, aber was, wenn er wirklich ein netter Kerl war? Sie konnte weiß Gott Hilfe brauchen, um sich in London zurecht zu finden. Er war clever und einfallsreich. Und er schien nett zu sein - jedenfalls sah er schick aus, ehrlich und wohlhabend. Was, wenn sie ihn auf die Probe stellte?
Der Gedanke beunruhigte sie, ließ sie erzittern.
»Du starrst mich schon wieder so an. Ist mir ein zweiter Kopf gewachsen?«, fragte er.
Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie zusammenschrak. »Ich werde einfach nicht schlau aus dir.«
Er lächelte. »Da gibt es nicht viel zu wissen. Ich bin ein hart arbeitender Junge aus Brooklyn - den man nach London verpflanzt hat. Punkt.«
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Auch Jill lächelte und schüttelte den Kopf. »Klar.«
Sie wussten beide, dass das eine wahnsinnige Untertreibung war.
»Du siehst aus, als ginge es dir besser«, sagte er abrupt.
»Ich fühle mich auch besser.« Jill schob sich ein paar Fransen aus der Stirn. »Ich nehme immer noch Medikamente, aber nur eine niedrige Dosis.« Sie sah ihm in die Augen. »Hal hat vieles durcheinander gebracht. Er hat mich durcheinander gebracht. Aber ich kann damit leben. Ich versuche, nicht zu viel daran zu denken.«
Er hielt ihrem Blick stand. Sie las Wärme und Verständnis und
sogar Mitgefühl darin. »Du bist eine starke Frau.
Ich denke, wir haben einiges gemeinsam, du und ich.«
Jill fühlte, wie sie bei diesem Kompliment errötete; dann dachte sie über seine Worte nach. In einem Punkt hatte er Recht. Sie waren beide in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und sie hatten beide sehr früh ihre Eltern verloren. Aber das war’s auch schon. »Du bist reich, machst Karriere, du lebst mit Adeligen und bist in ihren Kreisen zu Hause. Ich bin völlig pleite, mein Beruf zwingt mich dazu, ausgelatschte Schuhe zu tragen, und ich kaufe in Secondhand-Läden ein.«
Er grinste breit.
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»Also schön«, sagte Jill und erlaubte sich ein weiteres kleines Lächeln. »Wir haben etwas gemeinsam.« Dann wurde sie ernst. Sie hatten auch Hal gemeinsam.
»Denk nicht daran«, sagte er mit weicher Stimme.
Da wurde ihr klar, wie scharfsinnig er wirklich war.
»Bist du telepathisch veranlagt?«
»Überhaupt nicht. Aber ich kann eben in die Menschen hineinschauen. Berufskrankheit.«
Jill nickte und ermahnte sich, es langsam angehen zu lassen, wenn sie ihn auch nur am Rande in ihr Leben ließ, als bloßer Freund oder Bekannter.
»Wie geht es deiner Tante und deinem Onkel?«, fragte sie, ehrlich interessiert.
Auch er wurde ernst. »Ganz gut. Margaret nimmt Medikamente für ihr Herz. Ich mache mir ziemliche Sorgen um sie.« Das sah man auch in seinen blauen Augen. »William geht es den Umständen entsprechend: Er ist ständig müde und jammert deswegen, aber er hat sich auf ein paar Firmenprojekte gestürzt, um sich abzulenken.« Jill konnte sie beide verstehen. »Und Thomas und Lauren?«
»Thomas arbeitet wie ein Pferd. Ich habe ihn noch nie so ackern sehen. Lauren trauert immer noch.« Er sah sie durchdringend an.
»Und du?« Die Worte waren ausgesprochen, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
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Er zögerte mit der Antwort. »Ich wünschte, Hal wäre zu dir und Marisa aufrichtig gewesen. Ich wünschte auch, er hätte eine Chance gehabt, sein Leben zu leben.«
Jill schob die Hände in die winzigen Taschen ihrer engen Hose. Bedeutete das, dass er sie insgeheim immer noch für Hals Tod verantwortlich machte? Wie konnte es anders sein? Die hässliche Fratze der Schuld ließ sich nicht vertreiben. Sie hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. »Ich meine, wir wünschen uns alle, er wäre noch hier«, sagte sie endlich.
Sein Blick war forschend auf ihr Gesicht gerichtet.
»Ich wäre früher oder später schon drauf gekommen«, sagte Jill
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