Kates Geheimnis
grimmig. »Ich bin naiv. Aber ich bin nicht dumm.«
»Das bist du ganz sicher nicht«, stimmte er zu. »Ich hab was für dich.«
Jill war seine Aktentasche aus weichem, schwarzem Leder gar nicht aufgefallen, die neben ihrem Gepäck auf dem Boden stand. Er holte einen Umschlag heraus und gab ihn ihr. »Mach auf.«
Neugierig gehorchte Jill. Sie riss die Augen auf, als ihr eine dicke Überschrift der New York Times vom 21. Januar 1909 in die Augen sprang. »Amerikanische Erbin vermisst«, las sie. Der Untertitel lautete: »Keine Hinweise auf den Verbleib der Gallagher-Erbin.« Es war eine Kopie des alten Zeitungsartikels.
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Jill bebte vor Aufregung. Rasch blätterte sie zur nächsten Seite - eine weitere Kopie, diesmal von einem Artikel aus der Londoner Tribune . »Oh Gott«, flüsterte sie und las vor: »Keine Anzeichen für Verbrechen beim Verschwinden der Gallagher-Erbin.« Der dritte Artikel war aus der World , New York, vom 28. September 1909. Überschrift:
»Verschwinden von Kate Gallagher bleibt rätselhaft.«
»Der Fall wurde offiziell nie abgeschlossen«, sagte Alex beiläufig und holte Jill damit in die Gegenwart zurück. »Aber die Ermittlungen wurden im Herbst 1909 eingestellt, weil es keine brauchbaren Hinweise gab. Lucinda Becke hatte Recht. Kate Gallagher ist einfach verschwunden - als hätte sie sich in Luft aufgelöst.«
Jill sah ihn verblüfft an. »Woher hast du das? Hast du diese Artikel in den Archiven von Uxbridge Hall gefunden?«
Er grinste jungenhaft. »Nein. Ich surfe gern im Internet. Mit der richtigen Software kommst du überall rein - auch in alte Archive von Zeitungen wie der Times und der Tribune .«
»Aber warum? Warum diese Mühe?« Jill verstand es nicht. Und sie brannte darauf, die Artikel zu lesen.
Sie konnte sich kaum davon abhalten, sich sofort damit zum Sofa zu verziehen.
»Vielleicht wollte ich einfach helfen - nachdem ich dich bei den Briefen so enttäuscht habe.«
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Er lächelte nicht. Er wirkte sehr ernst - und sehr gespannt. Jill vergaß zu atmen. Warum machte er sich eine solche Arbeit?
Alex löste die Spannung. »Jetzt setz dich schon hin und lies. Ich mach uns einen Tee.«
Jill nickte. Sie sank aufs Sofa; ihre Hände zitterten.
Die Vermisstenanzeige war von Kates Mutter, Mary Gallagher, am 2. Januar 1909 erstattet worden. Jills Erregung wuchs. Der Artikel beschrieb Kate als Tochter des verstorbenen Peter Gallagher aus New York City. Sicher war das derselbe Peter Gallagher, der am Washington Square gewohnt hatte - jedenfalls nahm Jill das an.
Kate war offenbar auf einer Geburtstagsparty von Anne Bensonhurst das letzte Mal gesehen worden.
Die, so las Jill, hatte am Samstag, den 17. Oktober, auf Bensonhurst stattgefunden.
Schauer liefen Jill über den Rücken. Die Worte verschwammen vor ihren Augen. Sie starrte auf die Kopien in ihrer Hand, aber sie sah Kate, in einem schwarzen Ballkleid mit Spitze, hinreißend schön und bleich vor Kummer. Die Menge um sie herum bildete einen Wirbel fröhlicher Farben, die Damen waren mit Juwelen behängt, die Herren trugen Smokings und gestärkte weiße Hemden. Ein
Orchester spielte. Kate stand ganz allein und beobachtete die Menschen in dem riesigen Saal.
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»Ihre Mutter beharrte darauf, dass Kate nicht aus freien Stücken verschwunden ist«, sagte Alex.
Jill erschrak dermaßen, dass sie beim Klang seiner tiefen Stimme fast vom Sofa gefallen wäre. Er stand in der Küchentür und sah sie an. »Wo warst du gerade, Jill?«
»Ich konnte es sehen. Sie. Auf Annes Geburtstagsfest. Ein Dutzend Zeugen haben angegeben, dass sie sie dort zuletzt gesehen hätten.
Ich konnte sie sehen, und die ganze Gesellschaft, ganz deutlich. Es war fast beängstigend lebendig. «
Jill brachte kein Lächeln zustande. Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam mit langen, lockeren Schritten auf sie zu. »Also hat sie ihr Kind bekommen - oder es verloren , und ist nach London zurückgekehrt, um dann einfach zu verschwinden.«
Daran hatte Jill nicht gedacht. »Du hast Recht.«
»Wenn du alle Artikel liest, wirst du sehen, dass einige ihrer Freunde ihrer Mutter widersprachen. Es scheint, dass deine Ahnfrau, wenn sie das denn war, als draufgängerische, impulsive und ziemlich wilde Person verschrien war.«
»Ich glaube, dass sie meine Urgroßmutter war.
Davon bin ich mit jedem Tag mehr überzeugt.«
»Warum?« Er setzte sich neben sie auf das Sofa, und in diesem Moment begann der Teekessel zu pfeifen.
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»Ist nur so ein Gefühl.
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