Katharsia (German Edition)

schnaufte, bis seine Kiefermuskeln schmerzten und der Magen streikte. Nur die Meeresfrüchte ließ er links liegen. Die hatte er noch nie gemocht.
    Doktor Fasin hatte das Essen längst beendet und mit Vergnügen dem Jungen zugeschaut. Als der nun das Besteck fallen ließ, lud er ihn ein, mit ihm auf einem der weichen Teppiche Platz zu nehmen. Sando streckte sich dankbar aus, denn er fühlte sich so vollgestopft, dass ihm selbst das Sitzen unangenehm war. Doch sein Geist war hellwach. Nun, da ihm Hunger und Durst nicht mehr zusetzten, begannen seine Gedanken um die Fragen zu kreisen, die ihm Stadlmeyr nicht hatte beantworten können.
    „Du platzt fast vor Neugier, Sando. Ich sehe es dir an der Nasenspitze an“, bemerkte Doktor Fasin vergnügt, während er eine Wasserpfeife anzündete und genüsslich einen tiefen Zug nahm. „Na dann, schieß los, ich bin ganz Ohr.“
    Und Sando ließ sich nicht lange bitten. „Dieses Katharsia“, begann er, „Herr Stadlmeyr meinte, es liege am selben Ort wie die Erde. Wie ist das möglich?“
    Doktor Fasin stieß einen Rauchkringel in die Luft. „Keine leichte Frage. Es ist lange her, dass mir dies jemand erklärt hat, und nur so viel habe ich mir gemerkt: Es gibt ein Grundgesetz der Physik, das die Wissenschaftler auf der Erde für unumstößlich halten, danach können zwei Körper nicht gleichzeitig am selben Ort sein. Das klingt auch völlig logisch, scheint aber nicht ganz richtig zu sein. Katharsia ist eine Parallelwelt, die sehr wohl am selben Ort wie die Erde existiert, denn die beiden Welten durchdringen einander, treten aber nicht in Wechselwirkung. Das heißt: Katharsia ist von der Erde aus nicht wahrnehmbar, irdische Messgeräte können die Energien, die hier wirken, nicht messen. Und was man nicht nachweisen kann, existiert nicht für die Menschen. Aber du siehst es ja mit eigenen Augen, Junge, diese Parallelwelt existiert.“
    „Und die Erde? Können wir sie von hier aus wahrnehmen? Also, ich meine, könnte ich zum Beispiel etwas über meine Eltern erfahren, wie es ihnen jetzt geht?“
    Sando machte große, hoffnungsvolle Augen.
    „Leider geht auch das nicht“, sagte Doktor Fasin. „Nachricht von der Erde bekommen wir allein über die Seelen der Toten. Deren Schwingungen enthalten die Gefühle, das Wissen und den Charakter des Menschen, der gestorben ist. Und diese Schwingungen können hier wieder materielle Gestalt annehmen. Das ist genau der Grund, weshalb du jetzt hier bist.“
    „Und wie ist das mit den Träumen? Franz Stadlmeyr sagte, auch die könnten hier Gestalt annehmen. Er behauptet, er habe das Riesenchamäleon erträumt.“
    Der Doktor lächelte. „Das ist richtig. Und du hast das Prinzip heute bereits am eigenen Leibe erfahren, wie ich hörte.“
    Sando sah Doktor Fasin verständnislos an.
    „Ich meine den Gedankenspiegel, hat er nicht deine Gedanken zu Bildern gemacht? Hübsche Spielerei, nicht wahr?“
    „Na ja, wie man es nimmt …“
    Hatte Fatima dem Doktor alles erzählt? Diese Vorstellung machte Sando nicht eben glücklich.
    „Im Falle des Gedankenspiegels wird gewöhnliches Wasser geformt, was natürlich nur ein vergängliches Bild ergibt, weil es wieder zerfließt“, fuhr Doktor Fasin fort. „Sollen echte Wesen oder Dinge entstehen, braucht es dafür einen anderen Stoff, einen ganz besonderen Stoff: das Retamin. Um diesen Stoff dreht sich fast alles in Katharsia. Retamin ist quasi das Lebenselixier.“
    „Und Stadlmeyrs Echse besteht aus diesem … Retamin?“
    „Nicht nur dieses Monster, auch du und ich. Wir kommen als Seele nach Katharsia, reine Schwingung, reine Information, nur ein Bauplan. Und Retamin ist der Stoff, mit dem der Bau ausgeführt wird.“
    Sando staunte. Welch eine faszinierende Welt, in der Seelen und deren Wunschträume materialisiert werden konnten!
    „Leider ist Retamin ein Rohstoff, der allmählich zur Neige geht“, dämpfte der Doktor das Hochgefühl des Jungen. „Es gibt nur noch wenige Lagerstätten und wenn die erst einmal aufgebraucht sind, dann …“
    Mit einem Hieb zerstob er einen Rauchkringel in der Luft.
    „Was wird dann aus den Seelen, die nach Katharsia kommen?“, fragte Sando beklommen.
    Doktor Fasin zuckte mit den Schultern. „Wenn wir das Retamin bis dahin nicht künstlich herstellen können, bleiben sie, was sie sind: körperlose Seelen.“
    Sando schwieg. So viel Neues musste er erst einmal verarbeiten. Der Doktor ließ ihm Zeit, schmauchte seine Pfeife und betrachtete den Jungen mit