Katharsia (German Edition)

aus. „Nun, in ,Katharsia‘ steckt das Wort ,Katharsis‘. Das heißt so viel wie ,Reinigung‘.“
    „Reinigung? Was wird denn hier gereinigt?“, fragte Sando belustigt.
    „Nun, der Name ist Programm. Hier können die Seelen mit sich ins Reine kommen, weil sie das zu Ende bringen können, was ihnen durch den Tod auf der Erde verwehrt geblieben ist. Das betrifft nicht nur Künstler wie Raffael oder Architekten wie Pöppelmann und Chiaveri. Jeder Mensch, der noch nicht bereit war für den Tod, weil ihm das Leben noch etwas schuldete, eine Erfindung etwa, ein Kunstwerk, eine Liebe oder eine Vergeltung, kann in Katharsia Erfüllung finden.“
    „Und wenn es so weit ist, was geschieht dann?“
    „Tja, Sando, wir wissen nur, dass die Seelen vergehen. Ich denke, sie gelangen in eine Welt, in der ein jeder mit sich im Reinen ist – das Paradies.“
    „Katharsia ist nicht das Paradies?“, fragte Sando überrascht. Nach allem, was er gehört hatte, schien diese Welt ein überaus interessanter und faszinierender Ort zu sein. Doch um die Lippen des Doktors spielte ein bitterer Zug.
    „Ganz sicher nicht, mein Junge, da müsste sich einiges ändern hier.“
    Sando hätte gern Näheres gewusst, doch der Doktor erhob sich.
    „Es ist spät, lass uns das Gespräch beenden.“
    Er griff nach seinem Glöckchen, um Kazim zu rufen. Doch ehe er läuten konnte, sagte Sando rasch: „Bitte, eine letzte Frage noch! Wie kommt es, dass jeder Neuankömmling hier die katharsische Sprache beherrscht?“
    Der Doktor schaute ihn verschmitzt unter dem Turban hinweg an. „Eine einfache Erklärung liefert eure Bibel in der Geschichte vom Turmbau zu Babel: Gott sandte den Menschen die Sprachverwirrung als Strafe für ihre Sünden. Was, wenn dieser Fluch nicht für Katharsia gelten würde?“
    „Ich weiß nicht …“ Sando blickte skeptisch drein.
    „Ich sehe schon, du bist auf eine wissenschaftliche Erklärung aus“, lächelte Doktor Fasin. „Aber damit steht es leider nicht zum Besten. Es gibt nur spärliche Hinweise. Auf der Erde tritt das seltene Phänomen auf, dass Menschen nach einem Unfall aus einer tiefen Bewusstlosigkeit erwachen und plötzlich eine Sprache beherrschen, mit der sie nie zuvor in Kontakt gekommen sind. Was die Ursachen betrifft, tappen die Forscher noch im Dunklen. Ich könnte mir vorstellen, dass das Trauma des Todes beim Übergang nach Katharsia das Gleiche bewirkt, nicht als seltenes Phänomen, sondern als zwangsläufige Folge.“
    Sando schaute den Doktor entgeistert an. „Sie meinen, der Tod lehrt alle die katharsische Sprache?“
    „Warum nicht? Der Tod ist das Schicksal, das alle hier gemeinsam haben.“ Damit beendete der Doktor endgültig das Gespräch. Auf sein Läuten hin erschien Kazim, der die Anweisung erhielt, den Jungen auf sein Zimmer zu führen.
    „Gute Nacht“, verabschiedete sich Doktor Fasin. „Es ist ja deine erste in Katharsia.“
    Der Geländewagen hinterließ eine lange Staubfahne in der Landschaft. Obwohl Kazim geschickt durch die Bodenwellen fuhr, wurden Doktor Fasin und Sando auf der Rückbank kräftig hin und her geworfen. Zu ihren Füßen die Tasche, die Sandos Sachen enthielt, hüpfte kräftig mit. Einmal hatte es einen so starken Ruck gegeben, dass Sando mit dem Kopf an die Seitenscheibe geprallt war. Doch dank des Turbans, den ihm Fatima am Morgen gebunden hatte, war ihm eine größere Beule erspart geblieben.
    „Ein Jammer, dass das Schwebemobil ausgerechnet heute in der Werkstatt ist!“, rief Doktor Fasin genervt.
    „Schwebemobil?“ Sando schaute den Doktor fragend an.
    „Ja, gibt es die etwa nicht auf der Erde? Das sind Fahrzeuge ohne Bodenkontakt. Damit kann man elegant über Unebenheiten wie diese hinweggleiten.“
    Ein erneuter Schlag. Ohne Gurt hätte es die Insassen längst mit dem Kopf an die Decke geschleudert.
    „Kann er nicht ein bisschen langsamer fahren?“, schrie Sando, um gegen den Fahrzeuglärm anzukommen.
    „Wir müssen pünktlich sein. Die Engel verstehen keinen Spaß“, brüllte der Doktor zurück.
    Das brachte Sando auf eine Frage, die er am Abend nicht mehr losgeworden war: „Stimmt es, dass die Engel keine Seele haben?“
    „Ja, das stimmt. Au! Verdammt!“ Der Doktor hatte sich den Kopf gestoßen. „Geht es vielleicht doch etwas weniger heftig?“, rief er Kazim zu.
    „Dort vorn wird das Gelände etwas ebener.“ Kazim nickte mit der Nase in die Richtung, weil er beide Hände für das tanzende Steuerrad brauchte.
    Und in der Tat – bald