Katharsia (German Edition)
würde nun geschehen?
Stille. Nur das Ticken der Uhr an der Decke inmitten des Korridors hallte dem Jungen in den Ohren. Er zuckte zusammen. Mit einem lauten Knall war eine Tür am Ende des Ganges aufgeflogen. Eine kleine, blond gelockte Frau kam herausgeschossen und rannte schreiend auf Sando zu. Es hatte den Anschein, als hebe sie beim Laufen beinahe vom Boden ab.
„Das muss er sein, der Junge! Du bist doch Sando Wendelin, nicht wahr? Wie mir das nur passieren konnte?! Es ist mir völlig unerklärlich!“
Mit diesen Worten war sie bei Sando angelangt, zog ihn vom Stuhl hoch und drückte ihn schluchzend an sich. Sando spürte ihre kleinen, festen Brüste an seinem Bauch und sein Kinn verschwand in ihrer dichten Lockenpracht, denn er überragte sie fast um Haupteslänge.
Kaum hatte er wahrgenommen, dass ihn der Duft ihres Haares an Apfelaroma erinnerte, schob ihn die kleine Person zurück und hielt ihn auf Armlänge Abstand, um ihn besser betrachten zu können.
„Was musst du alles durchgemacht haben dort draußen, mein Kleiner?!“, sagte sie, Tränen in den Augen. „Und ich bin schuld!“
Sie nahm Sando bei der Hand und zog ihn mit sich fort. Er konnte gerade noch seine Tasche greifen.
Sie steuerte die offen stehende Tür an, aus der sie gekommen war, und barmte aufgelöst: „Ich verdiene es, gefeuert zu werden! Es wäre nur gerecht … bei dem, was ich dir angetan habe! Einem kleinen, unschuldigen Jungen, der unglücklich hier ankommt … und dann …“ Der Rest ging wieder in Schluchzen unter. Inzwischen waren sie im Büro dieser personifizierten Fassungslosigkeit angekommen.
„Bitte setz dich. Hier, mach es dir bequem“, schniefte sie, fummelte ein großes spitzenumrandetes Taschentuch aus einem gehäkelten Täschchen, das ihr um den Hals hing, drehte sich um und putzte sich lautstark die Nase.
Sando bemerkte mit Erstaunen kleine Flügelchen, die aus dem Rücken dieser etwas pummeligen Person hervorlugten. War auch sie ein Engel? Ein Traumwesen ohne Seele? Wie konnte das sein bei einer solchen Tränenflut?
Ein Rätsel, das er jetzt nicht lösen konnte, denn er wagte es nicht, direkt danach zu fragen.
Etwas anderes erregte nun seine Aufmerksamkeit: An der Wand hing ein Fernsehschirm, der die für diese Gegend typische rot-grün gefleckte Landschaft zeigte. Darüber kreisten Hubschrauber und gepanzerte Engel. Erst jetzt nahm Sando eine leise Männerstimme wahr, die einen Kommentar sprach.
Es schien ein Bericht über die Suchaktion der Engel vom Vortag zu sein. Sando schaute gespannt hin und versuchte, irgendetwas zu verstehen.
„Interessiert es dich?“ Die kleine Frau hatte ihr Taschentuch inzwischen wieder im Häkeltäschchen verstaut und sah Sando mit großen, runden Augen an.
Das pausbäckige Gesicht eines süßen, blond gelockten Barockengels , dachte Sando, wäre ihr Gesicht nicht über und über verschmiert mit Wimperntusche.
„Es ist ein wenig leise“, sagte er schließlich.
„Alles, was du willst, mein Junge.“
Sie schien erleichtert, ihm einen Gefallen tun zu können. Auf eine Handbewegung hin wurde der Kommentar lauter und Sando erfuhr, dass die Gefahrenabwehr in der Wüste nach dem Wissenschaftler Professor Albert Strondheim suchte, der an einem Verfahren zur künstlichen Herstellung von Retamin forschte. Man ging davon aus, dass er entführt oder gar ermordet worden war. Angeblich sollten mit ihm auch wichtige Unterlagen verschwunden sein.
Retamin , dachte Sando, war das nicht der Stoff, von dem Doktor Fasin gesprochen hatte? Das Lebenselixier, ohne das Katharsia nicht existieren konnte?
Seine Überlegungen wurden vom lautstark geäußerten Unglück der pausbäckigen Barockfigur unterbrochen. Die Nachricht trieb ihr erneut die Tränen ins Gesicht. Sie griff in ein großes Glas, das halb gefüllt war mit Schokoladenkeksen, angelte sich einen heraus und steckte ihn sich wimmernd in den Mund. „Was ist das nur für eine Welt?!“, heulte sie fassungslos.
Sando rutschte peinlich berührt auf seinem Stuhl herum. „Nehmen Sie es sich doch nicht so zu Herzen“, versuchte er, sie zu beruhigen.
Doch das Gegenteil geschah: Sie heulte noch lauter und erklärte, den Keks zwischen ihren Zähnen zermalmend: „Ach … weißt du, Sando … es ist nun mal … meine Bestimmung … Mitgefühl … zu zeigen … So hat sich das mein … Gerard gewünscht … Er wollte einen mitfühlenden Engel … Ich kann nicht anders …“
Das Heulen schwoll wieder an, brach dann abrupt ab und nach
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