Katharsia (German Edition)
der Doktor die Frist unter der Auflage, dass in dieser Zeit kein Angriff der Gefahrenabwehr auf sein Anwesen erfolgten dürfe. Wanderer sagte zu und damit war das Gespräch beendet.
„Sichern Sie den roten Knopf solange!“, befahl er dem Techniker und schaute gedankenschwer auf das Pult.
Sando saß mucksmäuschenstill neben ihm und wagte sich nicht zu rühren.
„Arbeitet nun die Zeit für ihn oder für mich?“, fragte der Doktor schließlich. Er hatte seinen Kopf Sando zugewandt und sah ihn skeptisch an. „Ich habe auf dich gehört, Sando. Bitte würdige das bei deiner Entscheidung, auf welche Seite du dich schlägst.“
Im Saal sprang ein Offizier auf, wies auf einen der kleinen Kontrollschirme und rief: „Sie kommen!“
Doktor Fasin schaute alarmiert nach vorn. „Die Panoramakamera auf den Hauptschirm!“, befahl er rasch.
Ein Landschaftsbild erschien. Winzig am Horizont die Stadt Makala. Im Vordergrund die Mauer ihres Anwesens, vor der Panzer, Geschütze und andere schwere Waffen ihre Verteidigungsstellung bezogen hatten. Mit zusammengepressten Lippen betrachtete Doktor Fasin die lange Staubfahne, die sich von Makala her auf sie zubewegte. Schwarze Punkte am Himmel, noch klein wie Fliegenkot auf der Mattscheibe, mochten Hubschrauber und Panzerengel sein, die den heranrückenden Zug begleiteten.
„General Assadi hat es aber eilig“, knurrte der Doktor.
Sando wusste nicht, was er denken sollte. Seine Empfindungen schwankten zwischen der Furcht vor dem drohenden Gemetzel und der Hoffnung, Bens alter Freund Achmed, der die Gefahrenabwehr befehligte, würde dem Spuk ein schnelles Ende bereiten.
Doch der bedrohliche Aufmarsch schien den Doktor zu beflügeln. Seine Augen blitzten unternehmungslustig. Von der Skepsis, die ihn vor wenigen Augenblicken noch beherrscht hatte, war nichts mehr übrig geblieben.
„Meine Damen und Herren, zwei Stunden Waffenruhe hat uns der Präsident zugesichert. Das gleicht den Zeitverlust aus, den die Verhandlungen mit ihm verursacht haben. Nutzen wir die Frist, um das Retamin aus der Syntheseanlage in eine Waffe zu verwandeln, die General Assadi bis in seine letzten Träume verfolgen wird!“ Von einem Stativ, das an dem Pult befestigt war, nahm er eine Haube, deren Inneres mit Elektroden bestückt war.
Er sieht aus wie beim Brainscreening , dachte Sando, als sich der Doktor das Gerät übergestülpt hatte.
„Wollen Sie es etwa per Fernschöpfung probieren?“, fragte jemand ungläubig.
„Sie sagen es!“, gab der Doktor trocken zurück. „Geben Sie mir die Totalansicht der Synthesefabrik auf den Hauptschirm! Wie viel Retamin haben wir inzwischen?“
„Der erste Tank ist voll!“
„Gut. Veranlassen Sie, dass der Inhalt des Tanks vollständig als Wolke in die Atmosphäre abgelassen wird!“
Ein Ruf der Bestürzung wurde laut und Jamal al Din, der Besitzer der Anlage, fragte nach dem Sinn dieser gewagten Aktion.
„Warten Sie es ab, ich weiß, was ich tue!“, wies ihn Doktor Fasin zurecht.
„Hoffentlich …“, bemerkte jemand, der sich nicht zu erkennen gab.
Die Stimmung war gereizt, denn die Befürchtung machte sich breit, dass der Doktor den Vorteil, den sie nur einem glücklichen Zufall verdankten, nun wieder verspielen könnte.
„Kleingeister!“, knirschte Doktor Fasin leise für sich.
Sando dachte schadenfroh, dass es bis zum Paradies, in dem alle an einem Strang zogen, wohl noch ein weiter Weg war, als ihn leises Sirenengeheul aufmerken ließ.
Er blickte zum Schirm, der die Syntheseanlage zeigte, und ihm lief ein Schauer über den Rücken: der Hintergrund des Bildes, der eigentlich aus Wüstenstreifen, Horizont und Himmel bestehen sollte, bestand aus unzähligen schwarzen Punkten: Seelenaugen! Mustergültig angeordnet wie in den Zellen des Hades. Was hatten sie vor? Hatte der Doktor nicht gesagt, sie würden unverzüglich in alle Himmelsrichtungen ausschwärmen, um Katharsia seinen Segen zu bringen?
Verstohlen blickte Sando den Doktor von der Seite an. Wie jeder andere im Saal hatte auch er nichts bemerkt. Ohne ein Zeichen von Irritation verfolgte er das stetige Wachsen der Retaminwolke, die aus dem ersten der kugelförmigen Tanks entwich. Dabei hielt er sich die Ohren zu, denn der nervige Sirenenton störte seine Konzentration.
„Der Tank ist leer!“, kam die Meldung.
Doktor Fasins Augen ruhten auf der Wolke. Sein Gesicht wirkte wie versteinert: kein Lidschlag, kein Zucken eines Muskels. Niemand im Saal wagte, auch nur einen Laut von sich
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