Katharsia (German Edition)

„Füllstand: 99%“ konnte Sando darauf lesen und ihm wurde klar, dass es sich um einen Tank handelte, den die KORE-Leute dort bewachten.
    „Weißt du, was dort drin ist?“, raunte er Mike Lemming zu.
    „Allerdings!“, antwortete der wichtigtuerisch. „Retamin für etwa fünfhundert Mann. Gestern noch waren es die letzten Reserven der Seelenretter. Heute ist es durch die angelaufene Synthese eine lächerliche Restmenge.“
    „Und was wollen Wolfenhagens Leute hier?“, flüsterte Sando.
    „Keine Ahnung. Sie vertreiben sich die Zeit.“
    Lemming stieß Sando von hinten an:
    „Da hinein!“ Er wies rechterhand auf eine gepanzerte Tür. „Der Umkleideraum. Hier liegen unsere Schutzanzüge bereit.“
    Sando musste alle Kraft aufwenden, um die schwere Tür einen Spalt zu öffnen. Er schlüpfte hindurch und es genügte ein Blick in den Raum, um ihm das Blut in den Adern stocken zu lassen. Er sah sich einer Formation Hunderter Seelen gegenüber. Sie starrten ihn an und er wich zurück, kreidebleich.
    „Geh weiter! Nun mach schon!“, zeterte Lemming hinter ihm.
    Von Sando ausgebremst, drohte ihn das zuschlagende Panzerschott zu zerquetschen. Rüde stieß er dem Jungen in den Rücken, sodass dieser in die Mitte des Raumes stolperte.
    Die Seelenwand wich zurück. Sando stand wie zur Salzsäule erstarrt und dachte: Da haben wir sie also, die Interessenten für die lächerliche Restmenge Retamin.
    Er schwitzte Blut und Wasser. Wenn die Formation jetzt angriff, war er ungeschützt. Die Seelen konnten sein Hirn zermartern, ganz wie es ihnen beliebte. Sie konnten seine Gedanken, seine Erinnerungen manipulieren, ihn wahnsinnig machen, Halluzinationen auslösen, ihn in einen anderen Menschen verwandeln. Lemming bemerkte nichts von alldem.
    „Glaub nicht, dass du mir auf der Nase herumtanzen kannst!“, schimpfte er.
    Langsam wich Sando zurück. Die Seelen folgten, behielten aber den Abstand bei.
    Wie lange noch , dachte Sando.
    „Wo ist mein Schutzanzug?“, fragte er, ohne den Blickkontakt zu den unzähligen Augen zu unterbrechen.
    „Direkt neben dir! Bist du blind?“
    „Nein, ganz im Gegenteil“, versetzte Sando und tastete vorsichtig nach dem Anzug. Als Erstes bekam er die kugelförmige Haube zu fassen. Hastig setzte er sie auf und registrierte erleichtert, dass die Seelen es hinnahmen.
    „Was soll das, Sando? Der Helm ist zuletzt an der Reihe! Was ist denn los mit dir?“, wunderte sich Lemming, während er in aller Ruhe in die Kokonhülle stieg.
    Sando antwortete nicht, fädelte sich ebenfalls in die silberne Kombi ein und stopfte umständlich den Kragen unter die Schutzhaube, ohne sie dabei auch nur ein Stück anzuheben.
    Lemming, das Goldfischglas lässig unter dem Arm, beobachtete Sandos linkisches Gebaren und fragte belustigt: „Wer, zum Teufel, hat dir denn das Anziehen beigebracht?“
    „Autodidakt“, versetzte Sando trocken – froh, dass er glimpflich davongekommen war.
    Er schielte hinüber zu dem Seelenhaufen, von dessen Anwesenheit in der Festung Doktor Fasin gewiss nichts wusste, und er fragte sich, ob er Mike einen Wink geben sollte. Doch er entschied sich, zu schweigen, um die Hadesmission nicht zu gefährden. Lemming würde gewiss auf der Stelle zurückstiefeln, um den Doktor von dem neuerlichen Wortbruch Wolfenhagens zu unterrichten. Er, Sando, aber wollte die Sirene im Hades so schnell wie möglich zum Schweigen bringen, damit die Retaminproduktion aufhörte.
    Beunruhigt stellte er fest, dass die Seelen inzwischen einen Ring um ihn und Mike gebildet hatten. „Bitte, Mike, setz den Helm auf“, bat er. „Man kann ja nie wissen …“
    Lemming verzog sein Narbengesicht zu einem Grinsen. „Na, du bist mir ja einer! Willst hinab in den Hades und hast jetzt schon die Hosen voll!“ Dennoch setzte er die Haube auf, weil er die Hände für seine Waffe frei haben wollte.
    „Zufrieden?“, grunzte er hinter dem Glas. „Jetzt dort hinaus! Durch die andere Tür!“
    Sando tappte blind in die Masse der Seelen hinein. Wo war bloß diese vermaledeite Tür?
    „Bist du besoffen?“, griente Lemming hinter ihm und schob ihn zur Seite. „Da entlang! Na, das kann ja heiter werden …“
    Plötzlich lichtete sich der Schwarm und Sando fand sich unmittelbar vor der Tür wieder. Ein Schritt weiter und er wäre dagegengerannt. Er drückte die Klinke, stemmte sie mit dem Gewicht seines Körpers auf und schlüpfte aufatmend hinaus.
    Wenige Meter weiter erreichten sie eine Tiefgarage. Ein Abschnitt stand