Katharsia (German Edition)
offenbar für einen üblen Scherz.
„Seelen!“, schrie ihm Sando zu. „Er ist wahnsinnig geworden!“ Plötzlich hörte die Leiter auf zu schwingen. Doch zum Aufatmen gab es keinen Grund, denn nun senkte sich langsam der Baggerarm. Die Stricke spannten sich mehr und mehr. Das Gewicht der Felsbrocken, mit denen Sando und Mike die untersten Sprossen verkeilt hatten, belastete die Leiter zum Zerreißen. Sando hielt den Atem an und schloss die Augen. Er wartete. Wartete auf den Absturz. Was sollte er anderes tun? Die Stricke sirrten schon alarmierend. Gleich würde die schwächste Stelle nachgeben. Da! Er hörte ein dumpfes Geräusch. In seinem Magen kribbelte es wie beim freien Fall. Gleichzeitig zuckte durch seine geschlossenen Lider ein Blitz. Doch er fiel nicht. Im Gegenteil. Er fühlte, dass sich die Leiter ein wenig entspannte. Der Ausleger des Baggers schien nachgegeben zu haben.
Vorsichtig öffnete Sando die Augen, schaute nach unten. Er sah den Baggerführer mit schlaff baumelnden Armen und hängendem Kopf in der Kanzel sitzen, sah, wie sich Lemming sein Gewehr über die Schulter warf.
„Los, weiter!“, knurrte er Sando an.
Dem Jungen blieb die Luft weg, als er die verwirrte Seele des Baggerfahrers sah, die um das Führerhaus mäanderte.
„Hast du ihn etwa …?“
„Ja, ich habe ihn erschossen“, kam es grimmig von unten.
„Aber du kannst doch nicht …“
Lemming unterbrach ihn, schrie aus Leibeskräften: „Hör auf, so moralisch zu tun, Hasenscharte! Sei froh, dass ich hier die Drecksarbeit für dich mache! Oder wäre es dir lieber, jetzt dort unten zu liegen?“
Sando steckte ein Kloß im Hals. Mit Mühe unterdrückte er die Tränen.
„Los! Weiter jetzt, ehe uns die Kräfte ganz verlassen!“, hörte er Lemming wütend rufen. „Ich habe dem Doktor versprochen, dich heil zurückzubringen.“
Mechanisch griff Sando zur nächsten Sprosse, setzte ein Bein nach, drückte sich nach oben. Dann die andere Hand, das andere Bein. Er stieg und stieg, spürte nicht, wie sein Puls vor Anstrengung hämmerte. In seinem Kopf herrschte Leere. Nur raus hier!
Es wurde finster. Sando hatte das Sprengloch in der Decke erreicht. Weit oben erspähte er einen hellen Fleck, lediglich so groß wie ein Daumennagel. Der Junge war am Ende. So weit würde er nicht mehr steigen können. Auch Lemming unter ihm stöhnte. Ihm schien die Kraft abhanden gekommen zu sein, Sando weiter anzutreiben. Und zu allem Unglück schien sich die Leiter nun wieder bedrohlich zu straffen. Machte sich unten jemand am Bagger zu schaffen?
„Die Leiter reißt“, flüsterte Sando.
Lemming, der noch unterhalb des Felsloches hing, hatte die zunehmende Spannung der Seile ebenfalls bemerkt. Schnaufend zerrte er sich das Lasergewehr von der Schulter und setzte die Mündung unterhalb seiner Füße an einem der beiden Stricke an. Ein Blitz zuckte auf.
Die Leiter, nur noch auf einer Seite gehalten, schlug heftig hin und her. Lemmings Füße rutschten ab. Mit der rechten Hand das Lasergewehr haltend, krallte er sich allein mit der linken an der Leiter fest. Sein Absturz schien besiegelt zu sein. Sando blieb das Herz stehen, als er Lemming in dieser Lage sah. Er selbst, bereits im Kamin des Sprengloches, wo die Leiter an der Felswand lag, bekam die Schwingungen kaum zu spüren.
„Schmeiß die verdammte Waffe weg!“, schrie er und es wunderte ihn nicht ein bisschen, dass er inständig um seinen alten Feind bangte.
Irgendwie schaffte es Lemming, die Füße wieder auf die Sprosse zu bekommen, ohne das Gewehr fallen zu lassen. Während er keuchend darauf wartete, dass das Schlingern etwas nachließ, straffte sich das intakte Seil weiter. Schließlich setzte Mike die Waffe ein zweites Mal an und drückte ab.
Nach dem Blitz fiel der Leiterabschnitt unter ihm in sich zusammen und landete in der Baggerschaufel, während Lemming, der nun das Gewehr hatte fallen lassen, wie ein Zirkusartist am Trapez, an beiden Händen hängend, frei unter der Tunneldecke schaukelte. Doch er hatte kein Sicherheitsnetz und war am Ende seiner Kräfte. Sando sah dessen verzerrtes Gesicht und fragte sich, ob er erneut das Kunststück fertigbringen würde, mit den Füßen Halt zu finden.
Doch das Problem schien sich von selbst zu lösen, denn Sando spürte, wie er, fest auf einer Sprosse stehend, am Fels entlang nach oben rutschte.
Sie holen die Leiter ein , begriff der Junge. Daher rührt wohl auch die zunehmende Spannung der Seile!
Wenn Mike lange genug durchhielt,
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