Katharsia (German Edition)
sodass es Sando fast den Atem verschlug. Lange musste er den schweren Duft aber nicht ertragen, denn der quicklebendige Engel ließ schnell von ihm ab und holte sich vom Tisch das zweite Ohrgehänge. Begeistert betrachtete Denise das klimpernde Kleinod.
„Das ist ja umwerfend! Sando, du hast ja Geschmack!“
Vorsichtig fädelte sie die Schmuckstücke ein und lief über den Hof. Vor dem Küchenfenster verharrte sie, drehte grazil ihren Kopf und betrachtete sich in der Spiegelung. „Es ist … Ich finde keine Worte. Es ist … todschick! Sag mal, Sando, wie kommst du denn auf so was?“
„Ich? Wieso ich? Mir würde so etwas nie einfallen. Es ist nur … also … ich habe ein solches Ohrgehänge schon einmal gesehen und es mir einfach gemerkt.“
So leichthin Sando dies auch gesagt hatte, jetzt steckte ihm ein Kloß im Hals. So einen Schmuck hatte Maria getragen – am letzten Tag im Bus.
Sina betrat den Hof. Bei Denises Anblick stutzte sie, näherte sich ihr und starrte ihr unverwandt ins Gesicht.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte Denise argwöhnisch. Ihr mühsam erworbenes inneres Gleichgewicht schien ins Wanken zu geraten.
Die Haushälterin schien fasziniert von dem Ohrgehänge zu sein. Vorsichtig stieß sie die Metallröhrchen mit den Fingern an. Es klimperte leise.
„Was ist damit?“, wollte nun auch Sando wissen.
„Ich habe den gleichen Schmuck schon mal gesehen“, sagte Sina. „Heute … auf dem Markt.“
Sando durchfuhr es siedend heiß. „Auf dem Markt?“
„Ja, eine Europäerin hat ihn getragen. Eine ungewöhnlich schöne Frau.“
„Maria.“
Sandos Stimme klang belegt. Abrupt stand er auf.
Denise, die ahnte, dass er auf der Stelle das Haus verlassen würde, stellte sich ihm in den Weg. „Du kannst hier nicht weg, Sando!“
„Wieso? Ich habe einen neuen Pass.“
Der Alte reagierte heftig. „Schlag dir das aus dem Kopf! Das kommt nicht infrage! Ihr werdet die Pässe nutzen, um sicher unterzutauchen – möglichst weit weg von Makala!“
„Aber …“
„Keine Widerrede!“ Die Züge des Alten waren hart.
Sando atmete tief. „Maria ist dort draußen.“
Denise, die spürte, wie aufgewühlt Sando war, kämpfte mit den Tränen. Dennoch hielt sie tapfer dagegen: „Das ist doch Unsinn! Solche Klunker gibt es wahrscheinlich zu Tausenden.“
Doch damit reizte sie ihn erst recht zum Widerspruch.
„Das glaube ich nicht. Nur Maria hat sie getragen.“
Er schob Denise beiseite und landete in Sinas Armen. Die Haushälterin brummte nur: „Du wirst sie jetzt nicht finden, Junge, der Markt ist längst geschlossen.“
War es ihre ruhige Art oder das schlichte Argument, Sando fügte sich. Er trabte zurück zum Tisch und setzte sich stumm zu Ben Hakim. Äußerlich wirkte er gefangen, doch in seinem Inneren brodelte es: Am nächsten Morgen wollte er den Ausflug auf den Basar wagen!
„Heute hat die Einwanderungskommission getagt“, brach der Alte das ungute Schweigen. „Wir hatten über Dutzende Neuankömmlinge zu entscheiden, auch über die Seele eines gewissen Jussuf Mahmoud. Du kennst ihn, Sando.“
Sando zuckte mit den Schultern. „Jussuf Mahmoud? Nie gehört …“
Ihn beschäftigte im Moment etwas anderes.
„Die Kommission hätte Maria und dich als Opfer dieses Mannes anhören müssen“, fuhr Ben Hakim ungerührt fort. „Doch da dies nicht möglich war, mussten wir das Urteil ohne euch fällen.“
Sando dämmerte endlich, worum es ging.
„Jussuf Mahmoud … ist das einer der Geiselnehmer?“
„Ihr Anführer“, bestätigte Ben Hakim. „Wir haben ihn zum Hades verurteilt.“
Sando nahm die Nachricht mit Genugtuung auf. Er verspürte sogar eine gewisse Schadenfreude. Hatte sich der Mörder Marias nicht das Paradies als Belohnung für seinen Kampf gegen die Ungläubigen erhofft? Offenbar war er einem Irrtum aufgesessen, hatte Allahs Absichten falsch verstanden.
Der Alte schaute ihn durchdringend an.
„Bist du damit einverstanden, Sando?“
„Natürlich, was für eine Frage …“
„Dann haben wir ja richtig entschieden.“
Ben Hakim wirkte erleichtert. Offenbar geschah es auch, dass Opfer einem solchen Urteil widersprachen.
„Was ist denn in dem Bus geschehen, nachdem Maria und ich fort waren?“, wollte Sando wissen.
Auch Denise war gespannt auf die Antwort. Nervös strich sie über ihr frisch getöntes Haar und klimperte mit dem Ohrgehänge.
„Mahmoud hat den Bus mit den Geiseln in die Luft gesprengt“, ließ sich Ben endlich
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