Katharsia (German Edition)
nichts.
Plötzlich wurde der allgemeine Lärm durch ein wüstes Geschrei übertönt. Offenbar hatte jemand versucht, mit einem heimlich geschossenen Foto das Weite zu suchen. Sando erblickte einen Mann, der von den wütenden Geldeintreibern des Schlangenbeschwörers umringt war. Er machte nicht den Eindruck eines Touristen, denn er war gekleidet wie ein Einheimischer. Sein Fotoapparat hatte ein ungewöhnlich langes Objektiv. Dem Mann schien der Auflauf äußerst peinlich zu sein, denn er beeilte sich, den aufgebrachten Männern das geforderte Geld zu geben.
Sando hätte dem flötenden Jungen gern etwas gespendet, auch ohne Foto. Und in diesem Moment sehnte er sich sehr nach seinem Klavier. Endlich mal wieder musizieren , dachte er, am besten mit diesem Jungen gemeinsam.
Er befühlte den 500-Kat-Chip in seinem Kaftan. Damit konnte er jetzt leider nichts anfangen. Er musste ihn erst irgendwo einlösen. Suchend blickte er sich um.
Marias Anblick traf ihn wie ein Keulenschlag. Sein Herz raste und er rang nach Atem. Nein, es gab keinen Zweifel: Dort in der Menge, das war Maria! Flankiert von zwei stattlichen Männern, die ihre Blicke aufmerksam über die Menschenmenge schweifen ließen, sah sie mit leuchtenden Augen dem Schlangenbeschwörer zu.
Sando stand da wie versteinert. Sein Magen zog sich zusammen zu einem schmerzenden Klumpen. Und endlich kam Bewegung in seinen Körper. Alles in ihm drängte hin zu ihr: seine Beine, die anfingen zu laufen, seine Arme, die jeden zur Seite stießen, der sich zwischen ihn und Maria stellte, sein Herz, das ihr entgegenflog, sein Mund, der anfangs flüsternd, dann immer lauter ihren Namen sprach, solange, bis er vor ihr stand. Vor ihr!
„Maria!“
Ihre Aufmerksamkeit galt noch immer dem Schlangenbeschwörer. Sie hatte ihn, Sando, noch nicht wahrgenommen.
„Maria, ich bin es, Sando!“
Endlich wandte sie sich ihm zu. Bei der Drehung des Kopfes klimperten ihre Ohrkettchen. Es waren dieselben, die sie an ihrem letzten Tag im Bus getragen hatte.
Sie ist es! Sando jubelte tief in seinem Innersten.
„Maria!“
Sie sah ihn erstaunt an, in ihrem Blick die Frage, ob der Junge, der da rufend vor ihr stand, sie meinte.
„Maria! Erkennst du mich nicht?“
Es muss mein Kaftan sein, mein Turban , dachte Sando. So hat sie mich noch nie gesehen.
Hastig riss er sich das Band vom Kopf.
Sie machte einem ihrer Begleiter ein Zeichen, sagte etwas auf Arabisch. Sando wusste gar nicht, dass sie diese Sprache beherrschte. Der Mann drückte ihm eine Münze in die Hand. Damit war die Sache für sie erledigt. Sie drehte sich um und ging davon. Einer der Männer machte ihr den Weg frei, der andere schirmte sie von hinten ab.
Sando verstand die Welt nicht mehr. Er stürzte ihr nach, drängte sich an ihrem Begleiter vorbei, fasste nach ihrer Hand.
„Maria!“
Den brutalen Stoß, den er bekam, spürte er nicht. Er lag im Staub und schrie ihren Namen, schrie ihn noch, als sie längst weg war, als schon Bettelkinder nach ihm schlugen, weil er eingedrungen war in deren Revier. Er verstand nicht, was sie von ihm wollten, dass sie die Münze der schönen Frau von ihm forderten, die ihnen zustand, weil er nicht hierher gehörte. Zorn kochte in ihm hoch. Er riss sich los, schlug um sich. Der Turban dröselte sich auf. Er verhedderte sich darin, ließ die Münze fallen. Augenblicklich ließen die Bettelkinder von ihm ab, stürzten sich mit einem triumphierenden Aufschrei auf ihre Beute. Sando floh durch das Gewühl, stolperte, stürzte, rappelte sich auf, verfing sich in Kleidern und Tüchern, stieß an Bäuche, Rücken, Brüste, erreichte den Rand des Basars und rannte durch ein Gewirr unbekannter Gassen, bis er nicht mehr konnte, bis er sich erschöpft auf einen Eckstein fallen ließ.
Tränen rannen ihm über das staubige Gesicht. Er wollte sie aufhalten, doch es gelang ihm nicht. Wie oft hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, wenn er Maria wiedertraf. Immer waren es Szenen unbändiger Wiedersehensfreude gewesen. Von nicht
enden wollenden Umarmungen hatte er geträumt. Maria auf diese Weise zu begegnen, war über seine Kraft gegangen.
Wie lange er da heulend und grübelnd in der Gasse gesessen hatte, wusste er nicht. Das Gefühl für Zeit war ihm abhanden gekommen. Das erste Signal, das er von der Außenwelt wieder aufnahm, war das Klicken eines Fotoapparates.
Sando blickte auf. In der Gasse war ein Mann aufgetaucht, den Sando schon irgendwo gesehen hatte. Wieder und wieder richtete er seine
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