Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
unser Haus nach Korsika ein. Wir konnten nicht ahnen, daß dies von Anfang an ihr Ziel gewesen war.
Ich werde den Tag nie vergessen, an dem sie in unserem alten Haus eintraf, das beinahe zweieinhalb tausend Meter hoch in den korsischen Bergen lag. Um es zu erreichen, mußte man ein sehr wildes Gebiet mit tückischen Steilhängen und tiefen Schluchten durchqueren, außerdem die undurchdringliche Macchia, die an manchen Stellen meterhohe Wände bildet. Aber der beschwerliche Weg hatte die Äbtissin nicht abhalten können. Nach den Förmlichkeiten kam sie sofort auf das Thema zu sprechen, das ihr am Herzen lag.
„Ich bin nicht nur aufgrund Ihrer freundlichen Einladung gekommen, Franz Fesch“, begann sie, „sondern wegen einer dringenden Angelegenheit. Es gibt da einen Mann - einen Schweizer wie Sie selbst, der wie Sie Katholik geworden ist. Ich fürchte ihn sehr, denn er läßt mich beobachten. Ich glaube, er möchte hinter ein Geheimnis kommen, das ich hüte - ein Geheimnis, das vielleicht tausend Jahre in die Vergangenheit zurückreicht. All sein Tun deutet darauf hin: Er beschäftigt sich mit Musik, schreibt sogar an einem Wörterbuch der Musik und komponiert mit dem berühmten Andre Philidor eine Oper. Er ist mit den Philosophen Grimm und Diderot befreundet, die beide von Katharina der Großen in Rußland gefördert werden. Dieser Mann steht sogar mit Voltaire im Briefwechsel, den er verachtet! Inzwischen ist er zu alt, um noch zu reisen, und deshalb bedient er sich eines Spions, der unterwegs nach Korsika ist. Ich bitte um Ihren Beistand: Handeln Sie in meinem Sinn, so wie ich es für Sie getan habe.“
„Wer ist dieser Schweizer?“ fragte Fesch sehr interessiert. „Vielleicht kenne ich ihn.“
„Sie kennen seinen Namen, auch wenn Sie ihn kaum persönlich kennen werden“, erwiderte die Äbtissin. „Es ist Jean-Jacques Rousseau.“
„Rousseau! Unmöglich!“ rief meine Mutter Angela-Maria. „Er ist ein großer Mann! Auf seiner Theorie der natürlichen Tugend basiert die korsische Revolution! Paoli hat ihn gewonnen, unsere Verfassung zu schreiben, und es war Rousseau, der gesagt hat: ‚Der Mensch ist frei geboren, aber überall liegt er in Ketten.’“
„Es ist eine Sache, von den Prinzipien der Freiheit und der Tugend zu reden“, erwiderte die Äbtissin trocken, „und eine andere, danach zu handeln. Dieser Mann sagt, alle Bücher seien ein Werkzeug des Bösen - und doch schreibt er selbst in einem Zug sechshundert Seiten. Er sagt, die Mütter sollten sich um das leibliche und die Väter um das geistige Wohl ihrer Kinder kümmern - und doch legt er sein eigenes Kind auf die Stufen eines Waisenhauses! Es wird mehr als eine Revolution im Namen der ‘Tugenden’ geben, die er verkündet - und doch sucht er ein Machtinstrument, das alle Menschen in Ketten schlägt, mit Ausnahme dessen, der es besitzt!“
„Sie möchten wissen, worum es mir geht“, fuhr die Äbtissin lächelnd fort. „Ich kenne die Schweizer, Monsieur. Ich bin zum Teil selbst Schweizerin. Ich werde es Ihnen ohne Umschweife sagen. Ich brauche Informationen und Ihre Mithilfe. Ich weiß, daß Sie mir weder das eine noch andere geben, wenn ich Ihnen nicht von dem Geheimnis erzähle, das im Kloster von Montglane begraben ist.“
Dann erzählte uns die Äbtissin eine lange und märchenhafte Geschichte von einem legendären Schachspiel, das einmal Karl dem Großen gehörte und seit tausend Jahren innerhalb der Klostermauern versteckt sein soll. Ich sage „versteckt sein soll“, denn kein lebender Mensch hatte es gesehen, obwohl viele sich darum bemüht haben, das Versteck und das Geheimnis seiner angeblichen Macht herauszufinden. Die Äbtissin fürchtete wie alle ihre Vorgängerinnen, daß der Schatz während ihrer Amtszeit ausgegraben werden müsse, denn damit wäre sie dafür verantwortlich gewesen, daß die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Deshalb war sie mißtrauisch gegen alle, die ihr zu nahe rückten, so wie ein Schachspieler mißtrauisch keine der Figuren - auch nicht die der eigenen Farbe - aus den Augen läßt, die ihn in die Enge treiben könnten, und rechtzeitig Gegenangriffe plant. Aus diesem Grund war sie nach Korsika gekommen.
„Ich kann mir vorstellen, was Rousseau hier sucht“, sagte die Äbtissin, „denn diese Insel hat eine lange und geheimnisvolle Geschichte. Wie ich erzählt habe, übergaben die Mauren von Barcelona das Schachspiel Karl dem Großen. Im Jahr 809 - fünf Jahre vor Karls Tod - landete eine
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