Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Feuer’. Andere glauben, die Phönizier kamen vom Roten Meer und verdanken den Namen ihrer Heimat. Aber all das ist nicht richtig. Die Farbe unserer Haare führte zu diesem Namen. Und alle späteren Stämme der Phönizier, wie zum Beispiel die Venezianer, waren für flammendrote Haare bekannt.
Die Griechen nannten sie Phoinikes, sie selbst nannten sich Kanaanäer. Aus der Bibel wissen wir, daß sie viele Götter verehrt haben, und zwar die Götter Babylons: den Gott Bel sie nannten ihn Baal -, Ischtar - daraus wurde bei ihnen Astarte - und Melkart, den die Griechen Kar nannten, was soviel wie ‘Schicksal’ bedeutet. Bei meinem Volk hieß er Moloch.“
„Moloch“, flüsterte die Äbtissin. „Auch die Hebräer verehrten diesen heidnischen Gott. Kinder wurden den Flammen geopfert, um den Gott zu besänftigen ...“
„Ja“, sagte meine Mutter, „und noch Schlimmeres. In alter Zeit glaubten die meisten Völker, nur die Götter seien berechtigt, Rache zu üben. Aber die Phönizier nahmen dieses Recht für sich in Anspruch. In den von Ihnen gegründeten Siedlungen auf Korsika, Sardinien, Sizilien und in Städten wie Marseille und Venedig gilt Verrat nur als Mittel zum Zweck, und Vergeltung bedeutet Gerechtigkeit. Selbst in unserer Zeit bedrohen ihre Nachkommen das Mittelmeer. Das sind die wahren Nachkommen der Phönizier: Männer, die das Meer von Inselfestungen aus beherrschen. Sie verehren den Gott der Diebe. Sie leben von Raub und Betrug und sterben durch die Vendetta!“
„Ja“, ergänzte die Äbtissin erregt, „der Maure hat Karl dem Großen gesagt: Das Schachspiel vollzieht Sar - die Rache! Was ist es? Was für ein dunkles Geheimnis kann es sein, das die Mauren, vielleicht sogar die Phönizier kannten? Welche Macht steckt in den Schachfiguren? Vielleicht wußte man es einmal, aber ohne den verborgenen Schlüssel ist das Geheimnis auf immer verloren .. .“
„Ich bin nicht sicher“, erwiderte meine Mutter, „aber nach dem, was ich von Ihnen gehört habe, glaube ich etwas zu verstehen. Sie sagen, acht Mauren haben Karl dem Großen das Schachspiel gebracht und wollten sich nicht davon trennen. Sie begleiteten es sogar nach Montglane, wo sie angeblich geheime Rituale vollzogen. Ich weiß, was für ein Ritual das gewesen sein kann. Meine Vorfahren, die Phönizier, kannten Einweihungsriten, gleich denen, die Sie beschrieben haben. Sie verehrten einen heiligen Stein, manchmal war es eine Stele oder ein Monolith. Sie glaubten, aus dem Stein spreche die Stimme Gottes, und in jedem phönizischen Heiligtum befand sich ein Massebe wie der Schwarze Stein der Kaaba in Mekka, wie der Stein im Felsendom von Jerusalem.
In unseren Legenden gibt es die Geschichte einer Frau namens Elissa aus Tyros. Als ihr Bruder, der König, ihren Mann ermordete, entwendete sie die heiligen Steine und floh an die Küste Nordafrikas. Ihr Bruder verfolgte sie, denn sie hatte seine Götter geraubt. In unserer Version der Geschichte opferte sie sich und stieg auf einen Scheiterhaufen, um die Götter zu versöhnen und ihr Volk zu retten. Aber sie prophezeite, sie werde an dem Tag, an dem die Steine anfingen zu singen, wie ein Phönix aus der Asche steigen. Und das sei für die Erde der Tag der Vergeltung.“
Die Äbtissin schwieg noch lange, nachdem meine Mutter ihre Erzählung beendet hatte, und weder mein Stiefvater noch ich wollten ihre Gedanken stören. Schließlich sagte die Äbtissin:
„Ich denke an das Mysterium des Orpheus, dessen Gesang die Felsen und Steine rührte. Sein Gesang war so wunderbar, daß selbst die Dünen der Wüste blutrote Tränen vergossen. Vielleicht sind es nur Mythen, aber ich spüre, daß der Tag der Vergeltung nahe ist. Wenn das Montglane-Schachspiel wieder ans Licht kommt, möge der Himmel uns alle schützen; denn ich glaube, die Schachfiguren enthalten den Schlüssel, um die stummen Lippen der Natur zu öffnen und die Stimmen der Götter zu entfesseln.“
Letizia blickte sich in dem kleinen Eßzimmer um. Die Kohlen in der Kohlenpfanne waren zu Asche verglüht. Ihre Kinder sahen sie schweigend an; nur Mireille wirkte erregt.
„Hat die Äbtissin gesagt, wie das Schachspiel das ihrer Meinung nach bewirken werde?“ fragte sie.
Letizia schüttelte den Kopf „Nein, aber andere Vorhersagen erfüllten sich. Im Herbst nach ihrem Besuch erschien der Kundschafter Rousseaus, ein junger Schotte namens James Boswell. Unter dem Vorwand, ein Buch über die Geschichte Korsikas zu schreiben, freundete er sich mit Paoli
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