Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
verdeckten.
Während der Fahrt hatten alle geschwiegen. Beim Aussteigen erhielt Maria-Carolina die Aufgabe, Mireille auf ihr Zimmer zu führen, während die anderen bei der Vorbereitung des Abendessens halfen. Mireille trug noch immer Courtiades Hemd, das ihr viel zu weit war, und einen zu kurzen Rock von Elisa; die Haare waren von der Reise verklebt, die Haut von der ständigen Übelkeit verschwitzt. Deshalb war sie sehr erleichtert, als die zehnjährige Carolina mit zwei Kupferkrügen voll heißem Wasser zum Waschen erschien.
Anschließend brachte die Kleine ihr dicke Wollsachen, die Mireille sogar paßten. Langsam fühlte sie sich wieder etwas besser. Beim Abendessen erwartete sie ein reich mit einheimischen Spezialitäten gedeckter Tisch: Bruccio, ein sahniger Ziegenkäse, kleine Fladen aus Maismehl, Brot mit Eßkastanien, eingemachte Kirschen, die auf der Insel wild wuchsen, Salbeihonig, kleine Tintenfische und Kraken, Wildkaninchen in Letizias Spezialsauce und - erst seit kurzem in Korsika angepflanzt - Kartoffeln.
Nach dem Essen wurden die Kinder zu Bett gebracht. Dann füllte Letizia für die Erwachsenen- kleine Becher mit Apfelschnaps, und sie setzten sich um das glühende Kohlebecken.
„Zunächst“, begann Letizia, „möchte ich mich für mein Verhalten am Hafen entschuldigen, Mademoiselle. Meine Kinder haben mir berichtet, wie Sie unerschrocken und allein mitten in der Nacht Paris verlassen haben, während dort die Schreckensherrschaft wütete. Ich habe Napoleon und Elisa aufgefordert, mit anzuhören, was ich sagen möchte. Sie sollen erfahren, was ich von meinen Kindern erwarte, das heißt, Sie als Mitglied unserer Familie anzusehen, wie ich es auch tue. Was die Zukunft uns auch bringen mag, ich erwarte von ihnen, daß sie Ihnen, Mademoiselle, zu Hilfe kommen, als seien Sie ihre Schwester.“
„Madame“, sagte Mireille und wärmte den Apfelschnaps über der Kohlepfanne, „ich bin aus einem bestimmten Grund nach Korsika gekommen: Ich möchte aus Ihrem Mund die Bedeutung der Nachricht meiner Äbtissin erfahren. Die Ereignisse haben mir meine Mission aufgezwungen. Die letzte meiner Familie ist wegen des Montglane-Schachspiels gestorben, und ich habe geschworen, jeden Tropfen meines Bluts, jeden Atemzug und jede Stunde, die ich auf dieser Erde weile, darauf zu verwenden, das dunkle Geheimnis zu enträtseln, das sich mit diesen Schachfiguren verbindet.“
Letizia sah Mireille lange an. Ihr junges Gesicht stand in so großem Gegensatz zu ihren ernsten Worten, und bei dem Gedanken an das, wozu sie sich entschlossen hatte, gab es Letizia einen Stich im Herzen. Sie hoffte, die Äbtissin von Montglane würde ihre Entscheidung billigen.
„Ich werde Ihnen erzählen, was Sie erfahren möchten“, sagte sie schließlich. „Ich habe in meinem ganzen Leben nie über das gesprochen, was ich jetzt sagen werde. Haben Sie Geduld, denn es ist keine einfache Geschichte. Wenn Sie alles gehört haben, werden Sie die schreckliche Last ermessen können, die seit vielen Jahren auf meinen Schultern ruht - und die ich Ihnen übergebe.“
MADAME MÈRES GESCHICHTE
Als ich acht war, befreite Pasquale di Paoli die Insel Korsika von den Genuesen. Nach dem Tod meines Vaters heiratete meine Mutter einen Schweizer namens Franz Fesch. Um diese Ehe schließen zu können, mußte er seinem calvinistischen Glauben abschwören und Katholik werden. Seine Familie verstieß ihn daraufhin, so daß er völlig mittellos war. Dieser Umstand führte dazu, daß die Äbtissin von Montglane in unser Leben trat.
Nur wenige wissen, daß Helene de Roque einer alten adligen Familie aus Savoyen entstammt; ihre Familie hat Besitztümer in vielen Ländern, und sie selbst ist weit gereist. Ich lernte sie 1764 kennen. Sie war damals noch nicht vierzig, aber bereits Äbtissin des Klosters von Montglane. Sie kannte die Familie Fesch und stand bei diesen durch und durch bürgerlichen Leuten in sehr hohem Ansehen. Sie war über den Familienzwist informiert und machte es sich zur Aufgabe, zwischen meinem Stiefvater und seiner Familie zu vermitteln, um die alten Familienbande wiederherzustellen - ihr Tun schien damals völlig selbstlos zu sein.
Mein Stiefvater Franz Fesch war ein großer, schlanker Mann mit einem sympathischen, markanten Gesicht. Als echter Schweizer sprach er leise, äußerte selten seine Meinung und traute so gut wie niemandem. Er war natürlich sehr dankbar, als Madame de Roque eine Versöhnung mit seiner Familie erreichte, und lud sie in
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