Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
an, und die beiden Männer saßen jeden Abend beim Essen zusammen. Die Äbtissin hatte uns gebeten, ihr über sein Vorgehen zu berichten und alle Leute mit phönizischen Wurzeln zu warnen, damit sie ihm die alten Geschichten nicht erzählten. Aber die Warnung war eigentlich überflüssig. Wir sind von Natur aus verschwiegen und reden nicht einfach mit Fremden, wenn wir nicht wie ich im Falle der Äbtissin in ihrer Schuld stehen. Wie erwartet nahm Boswell auch den Kontakt zu Franz Fesch auf, aber der kühle Empfang durch meinen Stiefvater entmutigte ihn. Boswell bezeichnete Fesch scherzhaft als einen .typischen Schweizer. Als sein Buch The History of Corsica and Life of Pasquale Paoli später veröffentlicht wurde, konnte man sich vorstellen, daß er wohl wenig erfahren hatte, was Rousseaus Fragen beantwortete. Rousseau ist natürlich inzwischen tot...“
„Aber das Montglane-Schachspiel ist wieder ans Licht gekommen“, sagte Mireille, stand auf und sah Letizia in die Augen. „Ihre Geschichte erklärt zwar die Nachricht der Äbtissin und Ihre Freundschaft, aber sonst wenig. Erwarten Sie von mir, Madame, daß ich mich mit der Geschichte von singenden Steinen und rachsüchtigen Phöniziern zufriedengebe?
Ich habe zwar rote Haare wie Elissa von Q'ar, aber ich habe auch ein Gehirn im Kopf! Die Äbtissin von Montglane ist ebensowenig eine Mystikerin wie ich und würde sich mit dieser Geschichte nicht zufriedengeben. Außerdem beinhaltet die Nachricht mehr als das, was Sie erklärt haben. Die Äbtissin hat Ihrer Tochter gesagt, Sie, Madame, würden auch wissen, was zu tun ist! Was meint Madame de Roque damit? Und in welchem Zusammenhang steht das mit der Formel?“
Bei diesen Worten wurde Letizia leichenblaß und legte die Hand auf die Brust. Elisa und Napoleon saßen wie erstarrt auf ihren Stühlen. Napoleon flüsterte: „Welche Formel?“
„Die Formel, von der Voltaire wußte, von der Kardinal Richelieu wußte, von der zweifellos auch Rousseau wußte und von der höchst wahrscheinlich Ihre Mutter ebenfalls weiß!“ rief Mireille immer lauter. Ihre grünen Augen glühten wie dunkle Smaragde, als sie Letizia ansah, die noch immer völlig benommen am Tisch saß.
Mireille lief um den Tisch, nahm Letizia bei den Armen und zog sie hoch. Napoleon und Elisa sprangen ebenfalls auf, aber Mireille bedeutete ihnen mit einer Geste, sich zurückzuhalten.
„Antworten Sie mir, Madame! Die Figuren haben bereits bewirkt, daß zwei Frauen vor meinen Augen getötet worden sind. Ich habe den abscheulichen und teuflischen Mann gesehen, der das Schachspiel sucht, der mich verfolgt und mich für mein Wissen sofort umbringen würde. Pandoras Büchse ist geöffnet, und der Tod geht um. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, so wie ich das Montglane-Schachspiel gesehen habe - und die Symbole auf den Figuren! Ich bin überzeugt, es gibt eine Formel. Sagen Sie mir, was erwartet die Äbtissin nun von Ihnen? Was sollen Sie tun?“ Sie schüttelte Letizia beinahe. Mireille sah Valentine vor sich - Valentine, die wegen der Schachfiguren geköpft worden war -, und ihr Gesicht verzerrte sich in ohnmächtigem Zorn ...
Letizias Lippen zitterten. Die unbezwingliche Frau, die niemals eine Träne vergossen hatte, weinte. Napoleon legte schützend den Arm um seine Mutter, und Elisa nahm sanft Mireilles Hand.
„Mutter“, sagte Napoleon, „Ihr müßt es ihr sagen. Sagt ihr, was sie wissen möchte. Mein Gott! Ihr habt hundert bewaffnete französische Soldaten in Schach gehalten! Was kann so schrecklich sein, daß Ihr nicht darüber sprechen möchtet?“
Letizia versuchte zu sprechen. Tränen liefen ihr über die zusammengepreßten Lippen.
„Ich habe geschworen - wir alle haben geschworen -, nie darüber zu sprechen“, stieß sie heftig schluchzend hervor, „Helene - die Äbtissin wußte, daß es eine Formel gibt, noch ehe sie das Schachspiel gesehen hatte. Sie hat mir gesagt, wenn sie das Schachspiel nach tausend Jahren wieder ans Licht bringen muß, werde sie die Formel niederschreiben - die Symbole auf den Figuren und auf dem Schachbrett aufzeichnen und jemanden damit zu mir schicken!“
„Zu Ihnen?“ fragte Mireille. „Warum zu Ihnen? Sie waren doch damals noch ein Kind.“
„Ja, ein Kind“, wiederholte Letizia und lächelte wehmütig mit tränenüberströmtem Gesicht, „ein vierzehnjähriges Mädchen, das bald heiraten sollte. Ein Mädchen, das dreizehn Kinder auf die Welt bringen sollte, von denen fünf starben. Ich bin immer noch ein Kind,
Weitere Kostenlose Bücher