Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
verschwand, aber ich hörte noch die Stimme wie ein Echo in langen dunklen Gängen.
„Francois... Marie... Arouet...“ Dann war alles still.
Der Wind erstarb, und die Kerzen fingen wieder an zu brennen. Ich befand mich allein in der Gruft. Ich blieb lange dort; dann machte ich mich langsam auf den Rückweg, lief über den Rasen und in mein Zimmer zurück.
Am nächsten Morgen wollte ich mir einreden, die Erlebnisse der Nacht seien nur ein Alptraum gewesen. Aber die welken Blätter und der modrige Geruch der Gruft an meinem Umhang bezeugten, daß ich das alles wirklich erlebt hatte. Der Kardinal hatte mir gesagt, er habe den ersten Schlüssel für die Lösung des Rätsels gefunden. Und aus irgendeinem Grund sollte ich diesen Schlüssel bei dem großen französischen Dichter und Theaterschriftsteller François-Marie Arouet, bekannt als Voltaire, suchen.
Voltaire war kurz zuvor aus dem selbstgewählten Exil auf seinem Landsitz in Ferney nach Paris zurückgekehrt, um, wie er erklärte, ein neues Stück auf die Bühne zu bringen. Aber die meisten glaubten, er sei gekommen, um hier zu sterben. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie der cholerische, alte, atheistische Stückeschreiber, der über fünfzig Jahre nach Richelieus Tod geboren war, Einblick in die Geheimnisse des Kardinals haben sollte. Aber ich mußte der Sache nachgehen. Ein paar Wochen vergingen, ehe es mir gelang, eine Begegnung mit Voltaire zu arrangieren.
Ich erschien zur verabredeten Stunde in meinem Priestergewand, und man führte mich in sein Schlafzimmer. Voltaire stand nie vor Mittag auf und blieb manchmal den ganzen Tag im Bett. Seit über vierzig Jahren behauptete er, im Sterben zu liegen.
Und da lag er, in die dicken Kissen gelehnt. Er trug eine weiche rosa Bettmütze und ein langes weißes Nachtgewand. Seine Augen wirkten in dem bleichen Gesicht wie zwei schwarze Kohlen. Die dünnen Lippen und die spitze lange Nase gaben ihm das Aussehen eines Raubvogels.
Priester liefen im Zimmer auf und ab, und er wehrte sich lautstark gegen ihre geistlichen Bemühungen und Ermahnungen. Daran sollte sich bis zu seinem letzten Atemzug nichts ändern. Ich wurde verlegen, als er den Kopf hob und mein schlichtes Novizengewand musterte, da ich wußte, wie sehr er die Kirche und alle, die zu ihr gehörten, verachtete. Er hob eine verkrümmte, knorrige Hand und rief den Priestern zu:
„Bitte, laßt uns allein! Ich habe auf diesen jungen Mann gewartet. Er kommt mit einer Botschaft von Kardinal Richelieu!“
Dann lachte er mit seiner hohen, krächzenden Stimme, während die Priester mich erschrocken musterten und aus dem Zimmer eilten. Voltaire forderte mich auf, Platz zu nehmen.
„Es ist mir immer ein Rätsel gewesen“, erklärte er aufgebracht, „warum dieses aufgeblasene alte Gespenst nicht in seinem Grab bleiben kann. Als Atheist finde ich es ungemein empörend, daß ein toter Priester ständig jungen Männern erscheint und sie auffordert, mich zu besuchen. Oh, ich weiß immer, daß sie von ihm geschickt worden sind, denn sie haben alle diesen albernen metaphysisch verhärmten Mund und einen leeren Blick, genau wie Sie... In Ferney war das Hin und Her schon schwer genug zu ertragen, aber hier in Paris werde ich geradezu überschwemmt!“
Ich unterdrückte den Ärger darüber, auf diese Weise beschrieben zu werden. Es überraschte mich, daß Voltaire den Grund meines Besuchs erraten hatte, und es alarmierte mich auch, denn er machte unmißverständlich klar, daß noch andere dem Geheimnis auf der Spur waren.
„Ich wünschte, ich könnte diesem Toten einen spitzen Holzpfahl durch das Herz stoßen, um endlich Ruhe vor ihm zu haben“, schimpfte Voltaire. Er hatte sich so sehr erregt, daß er zu husten begann. Ich sah, daß er Blut spuckte, aber als ich ihm helfen wollte, wies er mich zurück.
„Man sollte alle Ärzte und Priester aufhängen!“ schrie er und griff nach einem Glas Wasser. Ich reichte es ihm, und er trank einen Schluck.
„Der Kardinal möchte natürlich die Manuskripte. Er kann den Gedanken nicht ertragen, daß sein wertvolles Tagebuch in die Hände eines alten Ketzers gefallen ist, wie ich es bin.“ „Sie haben die persönlichen Tagebücher von Kardinal Richelieu?“
„Ja. Vor vielen Jahren, als ich noch jung war, wurde ich wegen revolutionärer Machenschaften gegen die Krone ins Gefängnis geworfen, well ich ein harmloses kleines Gedicht über das Liebesleben des Königs geschrieben hatte. Während ich dort bei lebendigem Leibe verfaulte, kam
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