Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
die sie in all den vielen Jahren nicht vergessen und der sie beinahe jeden Monat geschrieben und die Geheimnisse ihres Lebens anvertraut hatte. Ihre Wege hatten sich zwar getrennt, aber die Äbtissin sah Sophie noch immer als das kleine Mädchen vor sich, das auf dem Hof ihres Elternhauses in Pommern Schmetterlingen nachlief.
Ab die Troika sich dem Winterpalais näherte, lief der Äbtissin plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Eine Wolke verdeckte die Sonne. Sie fragte sich, was für ein Mensch ihre Freundin und Gönnerin inzwischen wohl sein mochte, denn sie war nicht mehr die kleine Sophie aus Pommern. Jetzt kannte man sie in ganz Europa als Katharina die Große, die Zarin aller Reußen.
Katharina die Große, die Zarin aller Reußen, saß an ihrem Ankleidetisch und blickte in den Spiegel. Sie war zweiundsechzig Jahre alt, klein und viel zu dick. Sie hatte eine hohe, intelligente Stirn und kräftige Kieferknochen. Ihre eisblauen Augen, die normalerweise vor Lebenskraft sprühten, waren an diesem Morgen stumpf, grau und von den vielen Tränen rotgerändert. Seit zwei Monaten hatte sie sich in ihre Gemächer zurückgezogen und empfing nicht einmal ihre Familie. Außerhalb ihrer Gemächer trauerte der gesamte Hof. Vor zwei Wochen, am 12. Oktober, hatte ein schwarzgekleideter Bote aus Jassy die Nachricht überbracht, daß Graf Potemkin gestorben war.
Potemkin hatte sie auf den russischen Zarenthron gesetzt und ihr die Quaste vom Knauf seines Schwerts überreicht; mit diesem Zeichen seiner Ergebenheit und Treue führte sie hoch zu Roß das rebellische Heer an und stürzte ihren Mann, den Zaren. Potemkin war ihr Liebhaber, Ministerpräsident, Oberbefehlshaber und Vertrauter gewesen. Sie sagte immer: „Er war mein wahrer Gemahl.“ Potemkin hatte ihr Reich um ein Drittel vergrößert, und es reichte jetzt bis zum Kaspischen und zum Schwarzen Meer. Und nun war er wie ein Hund auf der Straße nach Nikolajew gestorben.
Er war tot, weil er zuviel Fasane und Rebhühner gegessen, weil er sich mit Schinken und gepökeltem Rindfleisch vollgestopft hatte, weil er zuviel Kwaß, Bier und Beerenwein getrunken hatte. Er war tot, weil er die dicken adligen Damen befriedigt hatte, die ihm wie Soldatenweiber folgten und auf Brosamen von seiner Tafel warteten. Er hatte fünfzig Millionen Rubel an prächtige Paläste, kostbare Juwelen und französischen Champagner verschwendet - aber er hatte Katharina die Große auch zur mächtigsten Frau der Welt gemacht.
Ihre Hofdamen umschwirrten sie wie Schmetterlinge, puderten ihr die Haare und schnürten ihr die Schuhe. Katharina erhob sich, und sie legten ihr den grauen Samtumhang um die Schultern, den sie immer bei offiziellen Anlässen trug. Er war mit Orden überladen - das St.Katharma- Kreuz, das St.-Wladimir-Kreuz, das St.-Alexander-Nemski-Kreuz; die Bänder des St.-Andreas- und St.-Gregor-Ordens kreuzten sich über ihrem Busen, und an ihnen baumelten die schweren goldenen Auszeichnungen.
Heute würde sie zum ersten Mal seit zehn Tagen wieder vor dem Hof erscheinen. Ihre Leibgarde empfing sie. Katharina schritt zwischen den Reihen der Soldaten durch die langen Gänge des Winterpalastes. Sie kam an den Fenstern vorbei, von denen aus sie vor vielen Jahren ihre Schiffe auf der Newa beobachtet hatte, die den Angriff der schwedischen Flotte auf St. Petersburg zurückschlagen sollten. Katharina warf im Vorbeigehen einen nachdenklichen Blick aus den Fenstern.
Der Hof erwartete ihren Auftritt. Diese giftige Brut, die sich Diplomaten und Höflinge nannten, konspirierte gegen sie und plante ihren Sturz. Ihr eigener Sohn Paul wollte sie ermorden. Aber Katharina wußte, in wenigen Stunden traf in Petersburg der einzige Mensch ein, der sie vielleicht retten konnte. Es war eine Frau, und sie hielt in ihren Händen die Macht, die Katharina mit dem Tod Potemkins verloren hatte. Diese Frau war Helene de Roque, die Äbtissin des Klosters von Montglane.
Katharina zog sich nach der Audienz, auf den Arm ihres derzeitigen Liebhabers Plato Zubow gestützt, müde in ihre Privatgemächer zurück. Dort erwartete sie die Äbtissin in Gesellschaft von Platos Bruder Valerian. Beim Anblick der Zarin erhob sich die Äbtissin und ging ihr entgegen, um sie zu umarmen.
Die Äbtissin war für ihr Alter noch sehr rüstig und schlank. Sie strahlte beim Anblick ihrer Freundin. Nach der Umarmung warf sie einen Blick auf Plato Zubow. Er trug einen himmelblauen Umhang und eine hautenge Reithose und war mit so
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