Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Als ich erfuhr, daß französische Soldaten sich nach Montglane in Marsch gesetzt hatten, gab es keinen Zweifel mehr. Warum das Kloster von Montglane? Wir sind weit von Paris entfernt. Das Kloster liegt mitten in den Bergen. Es gibt sehr viel reichere Klöster, die in der Nähe der Hauptstadt liegen und einfacher zu plündern sind. Doch nein. Sie wollten das Schachspiel. Ich habe viel Zeit damit verbracht, alles genauestens zu planen. Ich habe das Schachspiel aus dem Versteck geholt und über ganz Europa verteilt, so daß es viele Jahre in Anspruch nehmen wird, um es wieder zusammenzustellen -“
„Verteilt!“ rief die Zarin. Sie sprang auf und lief wie ein Raubtier im Käfig hin und her. Die Schachfigur hielt sie immer noch an ihre Brust gedrückt. „Wie konntest du das tun? Warum bist du nicht zu mir gekommen? Du hättest mich um Hilfe bitten sollen!“
„Ich sage dir doch, das konnte ich nicht!“ erwiderte die Äbtissin, und ihre Stimme klang spröde und erschöpft nach der langen, beschwerlichen Reise. „Ich habe erfahren, daß es andere gab, die von dem Versteck des Schachspiels wußten. Jemand - vielleicht sogar eine ausländische Macht - hatte Angehörige der Nationalversammlung bestochen, damit das Enteignungsgesetz verabschiedet wurde, und dann deren Aufmerksamkeit auf das Kloster Montglane gelenkt. Ist es ein Zufall, daß zwei der Männer, die diese unbekannte Macht zu bestechen versuchte, der große, wortgewaltige Mirabeau und der Bischof von Autun sind? Der eine hat das Gesetz verfaßt, und der andere hat es mit größter Leidenschaft verteidigt. Als Mirabeau im April dieses Jahres erkrankte, wich der Bischof von Autun nicht vom Bett des sterbenden Mannes, bis er seinen letzten Atemzug getan hatte. Zweifellos wollte er die Briefe zurück, die sie beide belasten würden.“
„Wieso weißt du das alles?“ murmelte Katharina. Sie drehte der Äbtissin den Rücken zu, trat an ein Fenster und blickte zu dem dunkler werdenden Himmel hinauf. Schneewolken ballten sich am Horizont.
„Ich habe ihre Briefe“, erwiderte die Äbtissin. Beide Frauen schwiegen. Dann sagte die Äbtissin leise: „Du hast mich gefragt, weshalb ich noch so lange in Frankreich geblieben bin. Nun weißt du es. Ich mußte herausfinden, wer mich zum Handeln gezwungen hat. Wer mich gezwungen hat, das Montglane-Schachspiel aus dem tausendjährigen Versteck zu holen. Wer der Feind war, der mich verfolgt hat wie ein Jäger das Wild, bis ich den Schutz der Kirche verlassen mußte, um in einem anderen Land einen sicheren Platz für diesen Schatz zu finden.“
„Und kennst du nun den Namen, den du gesucht hast?“ fragte Katharina vorsichtig. Sie drehte sich um und sah die Äbtissin quer durch den großen Raum an.
„Ja“, erwiderte die Äbtissin ruhig. „Mein liebes Figchen, du bist es gewesen.“
„Wenn du alles weißt“, sagte die große Zarin, als sie und die Äbtissin am nächsten Morgen den verschneiten Weg zur Eremitage gingen, „verstehe ich nicht, weshalb du trotzdem nach Petersburg gekommen bist.“
Ein Trupp der kaiserlichen Garde marschierte im Abstand von zwanzig Schritten rechts und links neben ihnen. Der Schnee knirschte unter ihren hohen Kosakenstiefeln, aber sie waren weit genug entfernt, daß die beiden Frauen unbesorgt miteinander reden konnten.
„Obwohl alles dagegen spricht, vertraue ich dir“, erwiderte die Äbtissin und zwinkerte ihrer Freundin zu. „Ich weiß, du fürchtest den Zusammenbruch der französischen Regierung und die Anarchie, die dann ausbrechen würde. Du wolltest sicherstellen, daß das MontglaneSchachspiel nicht in die falschen Hände gerät, und du hast vermutet, ich würde die Maßnahmen nicht billigen, zu denen du bereit bist. Aber sag mir, Figchen, wie wolltest du den französischen Soldaten den Schatz abnehmen, nachdem sie ihn im Kloster ausgegraben hatten? Denn du wolltest doch sicher keine russischen Truppen in Frankreich einmarschieren lassen...“
„Ich hatte eine Einheit meiner Soldaten in den Bergen stationiert. Sie sollten die französischen Soldaten auf dem Paß überfallen.“ Katharina lächelte. „Natürlich trugen sie keine Uniform.“
„Ich verstehe“, sagte die Äbtissin. „Und was hat dich zu so außergewöhnlichen Schritten veranlaßt?“
„Ich sehe, ich muß mein Wissen wohl mit dir teilen“, erwiderte die Zarin. „Wie du weißt, habe ich nach Voltaires Tod seine Bibliothek erworben. Unter seinen Schriften befand sich ein geheimes Tagebuch von Kardinal Richelieu,
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