Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Konnte sie dieser alten, der Sinnenlust verfallenen und machtgierigen Frau die Aufgabe anvertrauen, die die Zukunft bringen würde?
„Habe ich dich so schockiert, daß du die Sprache verloren hast?“ fragte Katharina lachend.
„Meine liebe Sophie“, erwiderte die Äbtissin, „ich glaube, es macht dir Freude, andere zu schockieren. Weißt du noch, wie du dich als vierjähriges Mädchen am Hof des preußischen Königs geweigert hast, den Saum von König Friedrich Wilhelms Rock zu küssen?“
„Ich habe ihm gesagt, sein Schneider habe den Rock zu kurz gemacht!“ Katharina lachte, bis ihr die Tränen kamen. „Meine Mutter war wütend auf mich. Der König sagte zu ihr, ich sei entschieden zu keck.“
Die Äbtissin lächelte ihre Freundin liebevoll an.
„Weißt du noch, als der Kanonikus von Braunschweig sich unsere Hände ansah und uns die Zukunft voraussagte?“ fragte sie leise. „Er fand in deiner Hand drei Kronen.“
„Ich weiß es noch sehr genau“, erwiderte die Zarin, „seit diesem Tag habe ich nie mehr daran gezweifelt, daß ich eines Tages über ein großes Reich herrschen würde. Ich glaube immer an Prophezeiungen, wenn sie mit meinen Wünschen übereinstimmen.“ Sie lächelte, aber diesmal erwiderte die Äbtissin das Lächeln nicht.
„Und weißt du noch, was er in meiner Hand gefunden hat?“ fragte die Äbtissin.
Katharina schwieg einen Augenblick. „Ich weiß es noch so genau, als wäre es gestern gewesen“, erwiderte sie dann. „Aus diesem Grund konnte ich deine Ankunft kaum erwarten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich dich herbeigesehnt habe ...“ Sie zögerte und fragte schließlich: „Hast du sie?“
Die Äbtissin griff in die Falten ihres Ordensgewands. Sie hatte sich um die Hüfte eine große, flache Ledertasche geschnallt. Behutsam nahm sie die schwere goldene, mit Juwelen geschmückte Figur heraus. Es war eine Frau in langen Gewändern, die in einem kleinen Pavillon mit geöffneten Vorhängen saß. Sie reichte die Figur Katharina, die sie staunend und ungläubig in den Händen hielt und langsam von allen Seiten betrachtete.
„Die schwarze Dame“, flüsterte die Äbtissin und ließ Katharina dabei nicht aus den Augen. Die Hände der Zarin schlossen sich um die goldene Schachfigur. Dann drückte sie die Finger an die Brust und sah die Äbtissin an.
„Und die anderen?“ fragte sie. Der Klang ihrer Stimme machte die Äbtissin vorsichtig.
„Sie sind gut versteckt. Es kann ihnen nichts geschehen.“, erwiderte sie.
„Meine geliebte Helene, wir müssen sie sofort hierherholen! Du kennst die Macht, die in diesem Schachspiel verborgen ist. In den Händen eines gütigen Monarchen gibt es nichts, das mit Hilfe dieser Figuren nicht erreicht werden kann“
„Du weißt“, unterbrach sie die Äbtissin, „daß ich vierzig Jahre lang auf deine dringenden Bitten, nach dem Montglane-Schachspiel zu suchen und es aus seinem Versteck im Kloster zu holen, nicht eingegangen bin. Ich werde dir jetzt sagen, warum nicht. Ich kannte das Versteck schon immer -“ Die Äbtissin hob die Hand, als Katharina sie erregt unterbrechen wollte. „Ich kannte auch die Gefahr, die es bedeutete, das Schachspiel wieder ans Tageslicht zu holen. Nur eine Heilige dürfte man dieser Versuchung aussetzen. Und du bist keine Heilige, mein liebes Figchen.“
„Was willst du damit sagen?“ rief die Zarin. „Ich habe eine gespaltene Nation geeint und mein unwissendes Volk aufgeklärt. Ich habe die Pest besiegt, Krankenhäuser und Schulen gebaut, die einander bekriegenden Parteien aufgelöst, die Rußland zerstückelt und zur leichten Beute seiner Feinde gemacht hätten. Willst du damit sagen, ich sei eine Tyrannin?“
„Ich habe dabei nur an dein Wohl gedacht“, erwiderte die Äbtissin ruhig. „Diese Figuren besitzen die Macht, auch den kühlsten Kopf zu verdrehen. Vergiß nicht, das MontglaneSchachspiel hat beinahe zur Spaltung des Frankenreichs geführt. Nach dem Tod Karls des Großen ist unter seinen Söhnen ein Krieg darum entbrannt.“
„Das waren territoriale Streitigkeiten“, erwiderte Katharina verdrießlich, „ich sehe keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Dingen.“
„Nur der katholischen Kirche in Mitteleuropa ist es gelungen, diese dunkle Macht so lange als Geheimnis zu hüten. Aber als mich die Nachricht erreichte, daß Frankreich das Enteignungsgesetz verabschiedet hatte, um den Besitz der Kirche zu konfiszieren, wußte ich, daß sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten würden.
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