Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Botschaft verabschiedete. Denn heute, am 2. September, wollte sie unter diplomatischem Schutz aus Frankreich fliehen.
Jacques-Louis wußte es nicht, als er sich eiligst für die außerordentliche Sitzung der Nationalversammlung ankleidete, denn heute, am 2. September, standen die feindlichen Truppen bereits 180 Kilometer vor Paris. Die Preußen drohten, die Hauptstadt niederzubrennen.
Maurice Talleyrand wußte es nicht, als er mit seinem Diener Courtiade im Arbeitszimmer die wertvollen ledergebundenen Bände aus den Bücherschränken nahm. Heute, am 2. September, wollte er die unbezahlbare Bibliothek in Vorbereitung seiner unmittelbar bevorstehenden Flucht über die französische Grenze schmuggeln.
Valentine und Mireille wußten es nicht, als sie in dem herbstlichen Garten hinter Davids Atelier auf und ab gingen. In dem Brief, den sie gerade erhalten hatten, stand, daß die ersten Figuren des Montglane-Schachspiels in Gefahr waren. Die beiden ahnten nicht, daß dieser Brief sie in das Zentrum des Orkans führen würde, der sich heute über Frankreich erheben sollte.
Denn niemand wußte, daß genau in fünf Stunden - also am 2. September um zwei Uhr nachmittags - die Schreckensherrschaft der Revolution anbrechen würde.
NEUN UHR MORGENS
Valentine tauchte ihre Finger in das Wasser des kleinen Springbrunnens hinter Davids Atelier. Ein großer Goldfisch knabberte an ihren Fingerspitzen. Nicht weit von dieser Stelle hatten sie und Mireille die beiden aus Montglane mitgebrachten Schachfiguren begraben. Jetzt würden vielleicht noch andere dazukommen.
Mireille stand neben ihr und las den Brief. Um sie herum schimmerten violette und goldgelbe Chrysanthemen im grünen Blattwerk. Die ersten gelben Blätter schwebten auf das Wasser und verliehen dem Tag trotz der drückenden spätsommerlichen Hitze eine herbstliche Atmosphäre.
„Es gibt nur eine Erklärung für den Brief“, sagte Mireille und las ihn noch einmal vor:
Meine geliebten Schwestern in Christo,
wie Euch vielleicht bekannt ist, hat man das Kloster von Caen geschlossen. Infolge der großen Unruhen in Frankreich hat unsere Vorsteherin, Mlle. Alexandrine de Forbin, es für notwendig erachtet, zu ihrer Familie nach Flandern zurückzukehren. Unsere Schwester Marie-Charlotte Corday, an die Ihr Euch vielleicht ebenfalls noch erinnert, ist in Caen
geblieben, um mögliche unerwartete Aufgaben zu übernehmen.
Da wir uns nicht kennen, möchte ich mich Euch vorstellen: Ich bin Schwester Claude, eine Benediktinerin des ehemaligen Klosters in Caen. Ich war die persönliche Sekretärin von Schwester Alexandrine, die mich vor ihrer Abreise nach Flandern vor einigen Monaten zu Hause in Épernay aufgesucht hat. Damals bat sie mich, Schwester Valentine ihre Botschaft persönlich zu überbringen, falls ich in nächster Zeit in Paris sein würde.
Nun bin ich hier eingetroffen und befinde mich im Augenblick im Quartier Cordeliers. Bitte kommt heute pünktlich um zwei Uhr nachmittags zum Tor der Abbaye, da ich nicht weiß, wie lange ich noch hier sein werde. Ich glaube, Ihr versteht die Dringlichkeit dieser Bitte.
Eure Schwester in Christo
Claude von der Abbaye-aux-Dames, Caen
„Sie kommt aus Épernay“, sagte Mireille, als sie zu Ende gelesen hatte. „Diese Stadt liegt östlich von hier an der Marne. Sie behauptet, Alexandrine de Forbin hat sie auf dem Weg nach Flandern besucht. Weißt du, was zwischen Épernay und der flämischen Grenze liegt?“
Valentine schüttelte den Kopf und sah Mireille mit großen Augen an.
„Longwy und Verdun - und das halbe preußische Heer. Vielleicht bringt uns die liebe Schwester Claude etwas Wertvolleres als gute Nachrichten von Alexandrine de Forbin. Vielleicht bringt sie uns das, was Alexandrine für zu wertvoll und deshalb zu gefährlich hielt, um es durch die kämpfenden Armeen über die flämische Grenze zu schaffen.“
„Die Schachfiguren!“ rief Valentine. „In dem Brief steht, Charlotte Corday ist in Caen geblieben! Vielleicht dient Caen als Treffpunkt an der Nordgrenze.“ Sie dachte darüber nach. „Aber wenn es so ist“, fügte sie verwirrt hinzu, „weshalb versucht Alexandrine, Frankreich im Osten zu verlassen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Mireille und löste das Band aus ihren roten Haaren. Sie beugte sich über den Wasserstrahl und kühlte sich das Gesicht. „Wir werden es nicht erfahren, wenn wir Schwester Claude nicht zur genannten Zeit treffen. Aber warum ist sie im Quartier Cordeliers, dem gefährlichsten
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