Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Unendliche aufzusteigen schien wie ein Vogel in den Himmel. Es war eine Art Fuge, und während ich den geheimnisvollen Tonfolgen lauschte, begriff ich mit einem Schlag, was diesem Mann gelungen war. Ohne daß ich genau verstand wie, begann jede Stimme in einer harmonischen Tonart, endete jedoch in der nächst höheren Tonart, bis er nach sechs Wiederholungen des königlichen Themas wieder in der Tonart endete, in der er begonnen hatte. Aber es gelang mir nicht, den Übergang beziehungsweise die Stelle, an der er stattfand, wahrzunehmen. Es war Zauberei, wie die Verwandlung von Blei in Gold. Der Aufbau deutete an, daß die Musik endlos höher in die Unendlichkeit aufsteigen würde, bis die Töne wie Sphärenklänge nur noch von den Engeln gehört werden konnten.
„Wunderbar!“ murmelte der König, als Bach langsam sein Spiel beendete. Er nickte einigen
Generälen und Soldaten zu, die auf Holzstühlen in dem spartanisch eingerichteten Saal saßen. „Wie nennt man diese Struktur?“ fragte ich Bach.
„Ich nenne Sie Ricercar“, antwortete der alte Mann immer noch verdrießlich, als habe ihn
die Schönheit seiner Musik nicht berührt. „Auf italienisch bedeutet es ‘suchen’. Es ist eine sehr alte Musikform und nicht mehr in Mode.“ Bei diesen Worten blickte er bitter auf seinen Sohn Carl Philipp, der dafür bekannt war, "beliebte“ Musik zu komponieren.
Bach griff nach den Noten des Königs und schrieb in weit auseinanderstehenden Buchstaben Ricercar darüber. Aus jedem Buchstaben machte er dann ein lateinisches Wort, und am Ende stand zu lesen: „Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta.“ Frei übersetzt bedeutet das: ein Lied des Königs, durch die Kunst des Kanons verwandelt. Der Kanon ist eine musikalische Form, in der jeder Teil einen Takt nach dem vorausgegangenen einsetzt, jedoch die gesamte Melodie wiederholt. Dadurch entsteht der Eindruck, das Lied gehe ewig weiter.
Dann schrieb Bach zwei lateinische Sätze an den Rand der Partitur. Übersetzt lauten sie: Wenn die Noten aufsteigen, wächst des Königs Glück. Wenn die Modulation sinkt, dann schwindet des Königs Ruhm.
Euler und ich beglückwünschten den alten Komponisten zu dem genialen Musikstück. Von mir erwartete man nun, daß ich mit verbundenen Augen gleichzeitig gegen den König, Dr. Euler und gegen Wilhelm, den Sohn des Kapellmeisters, spielte. Der alte Bach spielte kein Schach, sah dem Spiel aber mit Vergnügen zu. Zum Schluß hatte ich alle drei Spiele gewonnen, und Euler nahm mich beiseite und sagte:
„Ich habe ein Geschenk für Sie. Ich habe eine neue Springer-Tour, eine mathematische Formel, erfunden. Ich glaube, es ist die beste Formel für die Tour eines Springers auf dem Schachbrett. Aber wenn Sie einverstanden sind, werde ich die Kopie der Formel dem alten Komponisten schenken. Er liebt mathematische Spiele und wird sich darüber freuen.“
Bach nahm das Geschenk mit einem eigentümlichen Lächeln entgegen und dankte uns aufrichtig. „Ich schlage vor, wir treffen uns morgen früh im Haus meines Sohnes, ehe Herr Philidor abreist“, sagte er. „Vielleicht finde ich bis dahin Zeit, für Sie beide eine kleine Überraschung vorzubereiten.“ Unsere Neugier war geweckt, und wir stimmten zu, uns am verabredeten Ort und zur verabredeten Zeit einzufinden.
Am nächsten Morgen öffnete Bach uns die Tür im Haus seines Sohnes Carl Philipp Emanuel. Er führte uns in das Wohnzimmer und bot uns Tee an. Dann setzte er sich an das kleine Klavier und spielte uns eine sehr ungewöhnliche Melodie vor. Als sein Spiel endete, waren Euler und ich völlig verwirrt.
„Das ist die Überraschung!“ sagte Bach mit einem Anfing von Fröhlichkeit, die sein Gesicht von dem üblichen finsteren Blick befreite. Er sah, daß Euler und ich völlig ratlos waren.
„Sie müssen sich die Partitur ansehen“, forderte uns Bach auf. Wir erhoben uns beide und traten zum Klavier. Auf dem Notenhalter befand sich nichts anderes als die Springer-Tour, die Euler ihm am Abend zuvor geschenkt hatte. Es war ein Blatt mit einem großen gezeichneten Schachbrett. In jedem Quadrat stand eine Nummer. Bach hatte sehr geschickt die Nummern mit einem Netz feiner Linien verbunden, die für ihn eine Bedeutung hatten, mir aber nichts sagten. Aber Euler war Mathematiker, und sein Kopf arbeitete schneller.
„Sie haben die Nummern in Oktaven und Akkorde verwandelt!“ rief er. „Sie müssen mir zeigen, wie Sie das gemacht haben. Mathematik in Musik verwandeln - das
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