Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
unmöglich sagen, wie viele Menschen bereits abgeschlachtet worden waren.
Mireille klammerte sich an David. Sie wollte schreien und rang nach Luft. Aber er packte sie fest an den Schultern und flüsterte heftig: „Reiß dich zusammen, oder wir sind verloren. Wir müssen sie sofort finden.“
Mireille kämpfte um ihre Selbstbeherrschung, während David sich verstört im Hof umsah. Die sensible Malerhand zitterte, als er einen Mann in seiner Nähe am Ärmel zog. Der Mann trug eine zerfetzte Uniform, aber er gehörte nicht zur Gefängniswache. Sein Mund schien mit Blut verschmiert, obwohl er nicht sichtbar verwundet war.
„Wer hat hier das Kommando?“ fragte David. Der Soldat lachte und wies auf einen langen Holztisch in der Nähe des Gefängniseingangs, an dem mehrere Männer saßen. Um den Tisch stand ein Kreis von Zuschauern.
David half Mireille über den Hof, während man drei Priester die Treppe herunterschleppte und vor dem Tisch auf die Erde warf. Die Menge verhöhnte die Geistlichen, und die Soldaten mußten sie mit ihren Bajonetten in Schach halten. Dann zerrten die Soldaten die Angeklagten auf die Beine und hielten sie fest.
Die fünf Männer am Tisch sprachen nacheinander zu den Priestern. Ein Mann blätterte in einen Akten vor sich, notierte etwas und schüttelte den Kopf.
Man drehte die Priester herum und führte sie zur Mitte des Hofs. Ihre Gesichter wurden blaß vor Entsetzen, als sie sahen, welches Schicksal sie erwartete. Die Zuschauer im Hof brüllten vor Begeisterung, als sie sahen, daß man neue Opfer zur Hinrichtung führte. David drückte Mireille an sich und schob sich zu dem Tisch, an dem die Richter saßen, die von den johlenden Zuschauern der bevorstehenden Hinrichtung verdeckt wurden.
David erreichte den Tisch, als die Männer auf der Mauer der Menge draußen das Todesurteil zubrüllten.
„Tod für Vater Ambrose von Saint-Sulpice!" Jubel und Beifall brandete auf.
„Ich bin Jacques-Louis David“, rief er dem vor ihm sitzenden Richter zu, um den Lärm zu übertönen, der zwischen den Gefängnismauern hallte, „ich bin Mitglied des Revolutionstribunals. Danton schickt mich-“
„Wir kennen Sie gut, Jacques-Louis David-, sagte ein Mann am anderen Ende des Tischs. David drehte sich nach ihm um und erschrak.
Mireille blickte über den Tisch zu dem Richter, und ihr gefror das Blut in den Adern. Ein solches Gesicht kannte sie nur aus ihren Alpträumen - ein Gesicht, wie sie es vor sich sah, wenn sie an die Warnung der Äbtissin dachte. Dieses Gesicht war die Ausgeburt des Bösen.
Der Mann war ekelerregend. Seine Haut war übersät mit Narben und Eiterbeulen. Er hatte sich einen schmutzigen Lappen um die Stirn gewickelt, von dem eine bräunliche Brühe tropfte; sie rann ihm über den Hals und verklebte seine fettigen Haare. Und als er David höhnisch ansah, dachte Mireille: Durch die offenen Geschwüre, die seine Haut überziehen, muß der Eiter des Bösen hervorquellen, das in ihm wütet. Der Mann war der Teufel in Menschengestalt.
„Ah, Sie sind es“, flüsterte David. „Ich dachte, Sie sind ...“
„Krank?“ fragte der Mann. „Ja, das schon, aber ich bin nie zu krank, um meinem Land zu dienen, Bürger.“
David näherte sich dem abstoßenden Mann, obwohl er sich davor zu fürchten schien, ihm zu nahe zu kommen. Er zog Mireille mit sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Du darfst nichts sagen. Wir sind in Gefahr.“
Am Tischende angelangt, beugte sich David vor und sagte: „Ich komme auf Dantons Wunsch, um bei dem Tribunal zu helfen.“
„Wir brauchen keine Hilfe, Bürger“, erklärte der andere giftig. „Dieses Gefängnis ist erst der Anfang. In jedem Gefängnis gibt es Staatsfeinde. Wenn die Urteile vollstreckt sind, werden wir uns das nächste Gefängnis vornehmen. Es gibt keinen Mangel an Freiwilligen, wenn es darum geht, der Gerechtigkeit zu dienen. Sagen Sie dem Bürger Danton, daß ich hier bin. Die Sache ist in den besten Händen.“
„Gut“, sagte David und streckte zögernd die Hand aus, um dem widerlichen Mann auf die Schulter zu klopfen. In diesem Augenblick stieß die Menge hinter ihm wieder einen Schrei aus. „Ich weiß. Sie sind ein ehrbarer Bürger und Mitglied der Nationalversammlung. Aber ich habe noch ein Problem. Sie können mir sicher helfen.“
David drückte Mireille die Hand. Sie rührte sich nicht und hielt den Atem an.
„Meine Nichte ist zufällig heute nachmittag hier am Gefängnis vorbeigekommen. Im allgemeinen Durcheinander ist sie hereingebracht
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