Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
worden. Wir glauben ... Ich hoffe, es ist ihr nichts geschehen, denn sie ist ein junges Mädchen und versteht nichts von Politik. Ich muß darum bitten, daß ich sie im Gefängnis suchen darf.“
„Ihre Nichte?“ fragte der Mann und sah David verschlagen an. Er griff in einen Wassereimer, der neben ihm stand, und zog einen nassen Lappen heraus. Er nahm den anderen Lappen von der Stirn und warf ihn in den Eimer. Dann legte er sich das tropfende, schmutzige Tuch um die Stirn und verknotete es. Wasser lief ihm über das Gesicht und die offenen Geschwüre. Mireille roch den verfaulenden Gestank des Todes an diesem Mann deutlicher als den Geruch von Blut und Angst im Gefängnishof. Sie fühlte, wie ihre Kräfte sie verließen, und glaubte, das Bewußtsein zu verlieren, als hinter ihr erneut ein jubelnder Schrei der Menge ertönte. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was das jedesmal bedeuten mußte.
„Sie brauchen sich nicht die Mühe zu machen, nach ihr zu suchen“, sagte der Mann, „sie erscheint als nächste vor dem Tribunal. Ich weiß, wer Ihre Schützlinge sind, David - auch wer sie ist“, fügte er mit einem Nicken in Richtung Mireille hinzu, ohne sie anzusehen. „Sie gehören zum Adel, das Blut der de Rémy fließt in ihnen. Sie kommen vom Kloster Montglane. Wir haben Ihre 'Nichte' bereits im Gefängnis verhört.“
„Nein!“ schrie Mireille und riß sich von David los. „Valentine! Was habt ihr mit Valentine gemacht?“ Sie wollte den schrecklichen Mann am Arm packen, aber David riß sie zurück.
„Sei nicht verrückt!’ zischte er ihr zu. Der Richter hob die Hand. Am Eingang kam es zu einem Handgemenge, und zwei Gefangene wurden die Treppe hinuntergestoßen. Mireille riß sich erneut los, rannte um den Tisch herum und zur Treppe, als sie Valentines blonde Haare erblickte. Ihre Cousine rollte zusammen mit einem jungen Priester die Stufen herunter. Der Priester erhob sich und half ihr beim Aufstehen.
„Valentine, Valentine“, rief Mireille und sah voll Entsetzen ihr blutiges Gesicht und die aufgeplatzten Lippen. Sie schloß ihre Cousine in die Arme.
„Die Figuren“, flüsterte Valentine und sah sich verstört im Hof um. „Claude hat mir gesagt, wo die Figuren sind. Es sind sechs ...“
„Mach dir deshalb keine Gedanken“, sagte Mireille und wiegte Valentine in ihren Armen. „Unser Onkel ist hier. Wir sorgen dafür, daß du hier herauskommst...“
„Nein!“ rief Valentine. „Sie werden mich umbringen, Mireille. Sie wissen von den Figuren... denke an den Geist! De Rémy, de Rémy“, stammelte sie benommen, den Namen der Familie wiederholend. Mireille versuchte, sie zu beruhigen.
In diesem Augenblick packte ein Soldat Mireille und hielt sie fest, obwohl sie sich heftig wehrte. In panischer Angst blickte sie zu David hinüber, der immer noch auf den abstoßenden Richter einredete. Mireille versuchte, den Soldaten in die Hand zu beißen, als zwei Männer dazutraten, Valentine ergriffen und vor das Tribunal zerrten. Einen Augenblick lang sah sie blaß und angstvoll zu Mireille hinüber. Dann lächelte sie, und ihr Lächeln war wie ein heller Sonnenstrahl, der durch eine dunkle Wolke bricht.
Die Stimmen der Männer am Tisch trafen Mireille wie eine Peitsche, deren Knallen von den Gefängnismauern widerhallte.
„Tod!“
Sie kämpfte verzweifelt gegen den Soldaten. Sie schrie und rief nach David, der weinend über den Tisch gesunken war. Zwei Männer schleppten Valentine langsam wie in Zeitlupe über den gepflasterten Hof zu dem grasbewachsenen Platz in der Mitte. Mireille schlug wie eine Wildkatze um sich. Ein Schlag traf sie in die Seite, und sie fiel mit dem Soldaten auf die Erde. Der junge Priester, der mit Valentine die Treppe heruntergestürzt war, kam ihr zu Hilfe und warf sich auf den Soldaten. Während die beiden Männer miteinander rangen, befreite sich Mireille und rannte zu dem Tisch, wo David immer noch schluchzte. Sie packte den Richter an seinem schmutzigen Hemd und schrie ihm ins Gesicht:
„Nehmt den Befehl zurück!“
Mit einem Blick über die Schulter sah sie, daß zwei dicke, kräftige Männer mit aufgerollten Hemdsärmeln Valentine auf der Erde festhielten. Es gab keine Zeit zu verlieren. „Laßt sie frei!“ schrie sie.
„Das werde ich tun“, sagte der Mann, „aber nur, wenn du mir sagst, was mir deine Cousine nicht verraten hat. Wo ist das Montglane-Schachspiel versteckt? Ich weiß, mit wem deine kleine Freundin gesprochen hat, bevor sie verhaftet wurde.
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