Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
merkwürdig. Obwohl eine kurze Meldung über Fiskes Tod und die Verschiebung des Schachturniers um eine Woche erschien, wurde mit keinem Satz erwähnt, daß Fiske eines unnatürlichen Todes gestorben war.
Am Mittwoch, also heute, wollte Harry das Abschiedsessen für mich geben. Ich hatte seit Sonntag nicht mehr mit Lily gesprochen, aber ich war sicher, daß die Familie inzwischen von Sauls Tod wußte - schließlich war er seit fünfundzwanzig Jahren ihr Chauffeur. Ich fürchtete den Abend. Wie sollte es mir gelingen, ihm zu verschweigen, was ich wußte? Mein Taxi bog von der Sixth Avenue ab, und ich sah, wie die Ladenbesitzer gerade die eisernen Gitter herunterließen, um ihre Schaufenster vor Diebstählen zu schützen. In den Geschäften nahmen Angestellte die kostbaren Edelsteine aus den Schaufenstern. Ja natürlich, ich befand mich im Zentrum des Diamantenviertels. Als ich ausstieg, sah ich Männer in Gruppen auf dem Gehweg beisammenstehen. Sie trugen schwarze Anzüge und hohe Filzhüte mit gerader Krempe. Einige der graumelierten Barte waren so lang, daß sie den Männern bis auf die Brust reichten. Bis zum Gotham Book Mart mußte ich noch ein Stück zu Fuß zwischen den Männern hindurchgehen. Die Buchhandlung befand sich in einem Haus mit einer kleinen, teppichbelegten, viktorianisch anmutenden Eingangshalle mit einer Treppe zum zweiten Stock. Zu meiner Linken führten zwei Stufen hinunter zum Laden.
Lily stand im hintersten Raum. Sie trug einen leuchtend roten Fuchspelzmantel und gestrickte Wollstrümpfe. Sie unterhielt sich sehr angeregt mit einem runzligen alten Herrn, der nur halb so groß war wie sie. Er trug den gleichen schwarzen Anzug und Hut wie die Männer auf der Straße, aber er hatte keinen Bart. Eine goldene Brille mit dicken Gläsern ließ seine Augen groß und eindringlich erscheinen. Er und Lily gaben ein merkwürdiges Paar ab.
Als Lily mich sah, legte sie dem alten Herrn die Hand auf den Arm und sagte etwas zu ihm. Er hob den Kopf und musterte mich.
„Kat, ich möchte dir Mordecai vorstellen“, sagte sie, „er ist ein alter Freund von mir und weiß sehr viel über Schach. Ich dachte, wir können ihm ein paar Fragen zu unserem kleinen Problem stellen.“
Damit spielte sie wohl auf Solarin an. Aber ich hatte in den letzten Tagen nicht wenig über Solarin erfahren und hätte es vorgezogen, mit Lily ein paar Worte unter vier Augen über Saul zu sprechen, ehe ich mich in den Löwenkäfig ihrer Familie begab.
„Mordecai ist ein Großmeister, aber er spielt nicht mehr“, erklärte Lily. „Er bereitet mich auf die Turniere vor. Er ist berühmt und hat Bücher über Schach geschrieben.“
„Du schmeichelst mir“, sagte Mordecai bescheiden und lächelte mich an. „In Wirklichkeit habe ich mein Geld als Diamantenhändler verdient. Schach ist mein Steckenpferd.“
„Kat war am Sonntag mit mir bei dem Turnier“, erklärte Lily.
„Ah!“ rief Mordecai und musterte mich noch eindringlicher durch die dicken Brillengläser. „Ich verstehe. Sie waren also Augenzeugin der Ereignisse. Meine Damen, ich schlage vor, wir trinken zusammen eine Tasse Tee. Nicht weit von hier ist eine Teestube. Dort können wir miteinander reden.“
„Ja... ich möchte aber nicht zu spät zum Essen kommen. Lilys Vater wäre sehr enttäuscht.“
„Ich bestehe darauf“, erklärte Mordecai charmant und entschlossen. Er nahm meinen Arm und ging mit mir in Richtung Ausgang. „Ich habe heute abend auch dringende Verpflichtungen, aber ich würde es bestimmt sehr bedauern, nicht zu hören, wie Sie über den mysteriösen Tod von Großmeister Fiske denken. Ich kannte ihn gut. Ich hoffe, Ihre Ansichten sind nicht soweit hergeholt wie die meiner... Freundin Lily.“
Auf der Straße waren inzwischen fast alle Diamantenhändler verschwunden. Die Geschäfte lagen im Dunklen.
„Lily hat mir erzählt, daß Sie Computerexpertin sind“, sagte Mordecai.
„Interessieren Sie sich für Computer?“ fragte ich.
„Nicht direkt. Mich beeindruckt, was man mit ihnen tun kann. Man könnte sagen, ich interessiere mich mehr für Formeln.“ Er kicherte fröhlich, und sein Gesicht strahlte. „Hat Lily Ihnen gesagt, daß ich Mathematiker war?“ Er warf Lily, die hinter uns ging, einen Blick über die Schulter zu, aber sie schüttelte den Kopf und holte auf. „Ich habe ein Semester bei Professor Einstein in Zürich studiert. Er war so klug, daß wir alle kein Wort von dem verstanden, was er sagte! Manchmal verlor er den Faden und verließ
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