Katja Henkelpott 1 - Katja Henkelpott
Großmutter sagt: »Es gibt keinen Kaiser mehr und keinen Führer und keinen Staatsrat, aber der Nußbaum erhebt sich immer noch mitten auf dem Hof, weil die Natur stärker ist als die Menschen und weil Bäume länger leben als wir.«
Der Nußbaum ist so alt wie das Haus. Er hat sich gegabelt, als er noch viel jünger war, und in der Baumgabel hat sich ein Loch gebildet, das sehr wichtig ist. Davon werde ich später erzählen. Unten herum ist der Stamm so rund und so breit wie meine Oma und so groß, als würde sie die Arme heben. Und dann gabelt er sich in zwei dicke Stiele, die so stark sind wie mein Vater, weil sie die Baumkrone tragen müssen. Die breitet sich über den ganzen Hof.
Als ich klein war, stand mein Kinderwagen unter dem Baum, und er hat mich beschirmt, damit mich die Sonne nicht brennen konnte. Und im letzten Sommer, als mein Großvater gestorben war, hat sein Sarg unter dem Baum gestanden, und wir anderen, Großmutter, Onkel und Tante, mein Vetter Raoul Habenicht, meine Eltern und ich, standen um den Sarg herum und haben von meinem Großvater geredet, wie gern er Zinnaer Klosterbruder getrunken hatte und was für ein guter Mensch er war, bis das Pferdegespann kam, das ihn zum Friedhof fuhr.
So traurig war es auch an dem Tag, als mein Vater erzählte, daß er die Arbeit verliert und daß meine Mutter umschulen muß. Weil meine Eltern an ihre Sorgen dachten und nicht an mich, durfte ich aufbleiben, bis es finster war.
Ich hab mich unter den Baum gestellt und hinaufgeschaut. Der Mond hing in den Zweigen, und zwischen den schwarzen Blättern funkelten die Sterne wie silberne Nüsse. Da dachte ich, vielleicht ist es ein Zauberbaum wie der vom Aschenputtel und kann uns helfen. Ich rief: »Bäumchen, schüttel dich! Wirf Gold und Silber über mich!«
Nichts bleibt, wie es ist
Es hat geraschelt, und dann fielen mir mehrere hohle Nußschalen auf meinen Henkelpott. Da wollte ich dem Baum meine Schneidezähne zeigen, die etwas auseinanderstehen. Meine Mutter kam heraus und tröstete mich. Sie sagte, das wäre nicht der Baum gewesen, sondern wahrscheinlich Moritz, das Eichhörnchen. Sie sagte: »Das Glück fällt nicht vom Himmel herab oder vom Baum herunter. Das Glück muß man sich selber verdienen. Das ist noch ziemlich schwer in den neuen Bundesländern. Du wirst es leichter haben, Katja Henkelpott. Und nun komm ins Haus. Es ist spät, und wir wollen uns zu Bett legen.«
Die Nußschalen heb ich mir auf, vielleicht werden sie später zu Gold.
Am nächsten Morgen fuhren Mutter und Vater mit dem Trabi nach Rostock zurück. Ich wohne vorläufig in Pälitzhof.
Moritz wohnt in einem Loch, das sich in der Baumgabel gebildet hat. So etwas passiert mit der Zeit und dauert viele Jahre. »Nichts bleibt, wie es ist«, sagt meine Oma. Das würde man Entwicklung nennen. Die Entwicklung des Loches geht so: Zuerst läuft etwas Regenwasser an den Ästen abwärts, manchmal sammelt es sich in der Baumgabel. Nach und nach entwickelt sich eine kleine faulige Stelle wie bei einem Apfel, der zu lange nicht gegessen worden ist. Und eines Tages ist der Wurm drin. Nun kommt der Specht, der horcht den Baum ab, beinahe so gut wie der Kinderarzt. Er hört den Wurm. Er will ihn haben. Und nun muß er ein Loch klopfen, um den Wurm herauszuoperieren. Dann merkt er, da ist noch mehr faul, da sind noch viele Würmer drin. Er muß tiefer klopfen. Das Loch wird größer. Und vielleicht hat die Vogelfrau gesagt: »Mein lieber Specht, wenn du dich ein bißchen anstrengst, wird aus dem Loch eine Höhle, in der ich brüten kann.« Der Specht hat geklopft und gehackt, daß die Späne flogen. Seine Frau hat gebrütet, jedes Jahr und jedes Jahr, aber dann sind sie ausgezogen. Vögel haben auch Sorgen, vielleicht war die Wohnung zu teuer.
Nun hatte die Natur Zeit, an dem Loch zu arbeiten, bis es so groß war, daß man einen Fußball darin verstecken konnte. Weil meine Oma keinen Fußball hatte, sind die Eichhörnchen eingezogen. Sie wohnen wie im Schlaraffenland, weil ihnen die Nüsse beinahe von selber in die Pfoten fallen. Sie brauchen sie nur zu knacken. Dabei setzen sie sich auf die Hinterbeine. Sie richten den buschigen Schwanz hinter ihrem Rücken auf, bis er ihnen über dem Kopf hängt. Dann drehen sie wie ein kleiner Mensch die Nuß mit allen zehn Fingern, bis sie den Knackpunkt gefunden haben, und dann lassen sie die Zähne arbeiten wie eine Fräse.
Jetzt wohnt Moritz in der Höhle. Er ist ein alleinstehender Eichkater und leidet
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