Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
ihm nichts Schlimmes zustoßen. Aber allmählich wurde ihm bewusst, dass er sich geirrt hatte, dass alles schief gelaufen war, und dass es nie wieder in Ordnung kommen würde. Und er wusste auch, dass es nicht jenes plötzliche Ereignis, jene schreckliche Sache war, die all seine Illusionen zerstört hatte. Der Untergang hatte schon viel früher begonnen, schon vor Jahren, ganz schleichend. Sein idyllisches kleines Zuhause war von Anfang an ein Trugbild gewesen, ein Schattenspiel an der Wand, schemenhaft, unwirklich. Aber er hatte die Anzeichen ignoriert, hatte bewusst weggesehen.
Ein Bett wurde langsam an ihm vorbei geschoben. Ein junger, langhaariger Pfleger bugsierte es durch den Korridor und um die Ecke in ein Krankenzimmer. In den weißen Laken lag ein alter Mann mit welkem, faltigem Gesicht. Dieter Arnold zuckte zusammen, als die weiße Decke seine Schulter streifte, und er dachte mit einem Mal an die Nacht, in der Tamara zum ersten Mal ins Bett gemacht hatte. Sie war zwei Jahre alt gewesen und gerade sauber. Er erinnerte sich an die ruckartigen, hektischen Bewegungen, mit denen Sylvia das Laken von der Matratze gezerrt hatte, an den verkrampften, angeekelten Ausdruck in ihrem Gesicht.
Er strich sich mit den Handflächen über die Oberschenkel. Das leichte Pochen in seinem Schädel, das er seit den frühen Morgenstunden gespürt hatte, war zu einem ohrenbetäubenden Hämmern angewachsen, aber er empfand es beinahe als angenehm, denn es lenkte ihn von den anderen Schmerzen ab, die ihm die Kehle zuschnürten.
„Herr Arnold.“ Die Stimme neben ihm redete mit einer solchen Betonung, dass ihm sofort klar war, dass der Mann ihn zum wiederholten Mal ansprach. Er blickte auf. Ein junger Chirurg in einem grünen Kittel sah auf ihn herunter. Er wirkte erschöpft.
„Es tut mir Leid, Herr Arnold. Wir haben alles versucht, aber wir mussten die Hand amputieren. Zu viele Knochen waren zersplittert und das Gewebe war vollkommen zerstört.“
Dieter Arnold sagte einen Augenblick lang gar nichts. Eine Unzahl Gedanken rasten gleichzeitig durch seinen Kopf. Schließlich fragte er:
„Wie geht es ihr?“
„Sie hat nicht allzu viel Blut verloren. Ihr Zustand ist stabil. Sie ist noch im Aufwachraum. Sobald wir sie in ein Zimmer gebracht haben, geben wir Ihnen Bescheid.“
Der junge Mann nickte ihm kurz zu und wandte sich ab. Dieter Arnold spürte, dass er froh war, gehen zu können. Er blickte hinunter auf seine Hände und ein stechender Schmerz jagte durch seine Fingerspitzen.
Katrin stieg atemlos die zwei Etagen zur ihrer Wohnung hoch. Das hatte sie davon, dass sie unbedingt in einem Altbau wohnen wollte. Natürlich gab es keinen Aufzug und natürlich waren die einzelnen Treppenabschnitte sehr lang, da die Wohnungen alle über drei Meter Deckenhöhe hatten. Sie stellte die Einkaufstaschen vor der Tür ab und suchte in der Hosentasche nach ihrem Schlüssel. Sie konnte hören, wie Rupert auf der anderen Seite der Wohnungstür maunzte. Sie schloss auf und dachte zum wiederholten Mal an das, was ihr Vater bei seinem letzten Besuch bemerkt hatte. „Dieses Schloss ist absolut nichts wert. Bei dir kann man mit einem Kleiderbügel einbrechen. Nicht, dass ich dir Angst machen will, Kleines, aber falls es einmal wirklich einer drauf anlegen sollte, der wäre innerhalb von zehn Sekunden bei dir drin.“
Vielleicht sollte sie das auch mal in Angriff nehmen. Genauso, wie sie diese Woche endlich ihr Wagenverdeck reparieren lassen würde. Rupert strich um ihre Beine, sodass sie Schwierigkeiten hatte, in die Küche zu gelangen. Sie stellte die Taschen auf dem Tisch ab und fing an, auszupacken.
Das Telefon klingelte. Zuerst dachte sie, die Per son am anderen Ende der Leitung hätte bereits wieder aufgelegt, als niemand auf ihr wiederholtes Fragen antwortete, aber dann hörte sie ein Schnaufen, so als würde ein Mensch schwer atmen. Schließlich hörte sie jemanden sprechen.
„Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst die Finger davon lassen?“
Die Stimme klang genauso gedämpft wie beim ersten Mal. Katrin musste sich gegen die Wand lehnen. Ihr war mit einem Mal schwindelig und ihre Finger zitterten.
„Wer sind Sie?“, flüsterte sie schließlich.
„Halt dich aus der Sache raus. Das kann doch nicht so schwer sein. Solltest du allerdings nicht freiwillig aufhören, weiter rumzuschnüffeln, werde ich dich mit Gewalt davon abhalten müssen.“
Es klickte in der Leitung. Katrin stützte sich zitternd auf die Kommode. Ihre Gedanken
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