Katrin Sandmann 02 - Kinderspiel
Fenster an der Ursulinengasse erlaubte einen Blick hinein. Er spähte kurz durch die Scheibe. Dann holte er tief Luft, stemmte die Tür auf und verschwand im Inneren.
Kaum hatte Peter Wickert die Gaststätte betreten, da schälte sich eine Gestalt aus dem Halbdunkel eines Hauseingangs ganz in der Nähe. Die Person huschte über die Straße und starrte in den Schankraum, so wie Wickert es wenige Augenblicke zuvor getan hatte. Die Gestalt verharrte längere Zeit reglos vor der Scheibe. Erst als sich eine Gruppe junger Leute näherte und unter lautstarkem Gegröle die Kneipe betrat, verzog sich der heimliche Beobachter wieder in sein Versteck, wo er abwartend in der Dunkelheit kauerte, bis Peter Wickert etwa eine Stunde später in Begleitung aus der Tür trat.
Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, und eine zimtig süße Wolke strömte ins Treppenhaus. Oma Erna lugte hinaus, entdeckte Angelika, und ein erfreutes Lächeln kroch über ihr faltiges Gesicht.
»Komm rein, Mädel, ich habe gerade Kaffee gemacht, und der Apfelkuchen ist auch ganz frisch .« Oma Erna lächelte. Der harte, abgehackte Tonfall ihrer Stimme verriet, dass sie nicht aus dem Rheinland stammte, dass es wie bei so vielen Menschen ihrer Generation der Krieg gewesen war, der sie vor über dreißig Jahren gezwungen hatte, in Düsseldorf eine neue Heimat zu finden.
Sie schlurfte voraus in die schmale Küche, die im hinteren Teil der kleinen Mietwohnung lag. Angelika folgte ihr. Sie hatte gehofft, dass Oma Erna ein wenig Zeit für sie übrig haben würde. Zu Hause, in ihrer eigenen Wohnung zwei Etagen höher, wartete ein Stapel ungebügelter Wäsche, aber an einem tristen Septembernachmittag wie diesem war es doch viel schöner, gemütlich zusammen zu sitzen und zu plaudern. Die Kinder spielten irgendwo draußen, und zu Hause war sie doch nur mit ihren Gedanken allein. Außerdem musste sie die Sache mit der Scheibe klären.
Und dann war da noch dieses Andere, über das sie gern mit jemandem gesprochen hätte, jemand anderem als ihrem Mann Jochen, der sofort vollkommen die Beherrschung verlor, wenn sie das Thema nur anschnitt. Aber darüber durfte sie nicht reden, mit niemandem. Sie durfte nicht einmal andeuten, dass es da ein Problem gab; sie musste so tun, als sei alles genau wie immer.
Angelika setzte sich an den wackeligen Küchentisch mit der abgewetzten Resopalplatte und sah Oma Erna zu, wie sie den Kuchen in säuberliche Stücke schnitt. Oma Erna war eigentlich niemandes Oma. Und sie war auch noch nicht wirklich alt, Anfang fünfzig vielleicht, auch wenn sie wesentlich älter aussah. Aber aus irgendeinem Grund, nannten sie alle so. Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen betrachteten sie als eine Art Oberhaupt der Antoniusstraße, einer schmalen, ruhigen Einbahnstraße in der Nähe des Düsseldorfer Hauptbahnhofs, in der jeder jeden kannte, fast so als lebten die Menschen hier in einem kleinen Dorf und nicht im Herzen einer Großstadt. Wenn jemand Sorgen hatte, etwas wissen wollte oder einen Babysitter brauchte, dann ging er zu Oma Erna.
Erna schenkte Kaffee ein.
»Mach dir mal keine Gedanken wegen der Fensterscheibe. Das ist nicht weiter schlimm. Solche Dinge passieren .«
Angelika räusperte sich. »Ich finde trotzdem, dass die Kinder das wieder gutmachen sollten. Den Schaden irgendwie abarbeiten, meine ich. Sie könnten ja für dich einkaufen gehen oder so was .«
Erna lächelte. »Das ist eine gute Idee .«
Angelika nahm einen Schluck Kaffee. Dann aß sie den Kuchen, während Oma Erna sich ihr gegenüber niederließ und anfing, eine große Schüssel Pflaumen zu entsteinen. Eine Weile gingen beide Frauen schweigend ihrer jeweiligen Beschäftigung nach. Schließlich legte Angelika die Gabel auf den leeren Teller. Ihr Blick fiel auf den Morgenkurier, der ungelesen auf dem Tisch lag. »Kanzler Schmidt verteidigt Ostpolitik .« Sie schob das Blatt mit einer müden Handbewegung zur Seite. Sie las nie die Zeitung. Sie verstand nichts von Politik und sie wollte es auch nicht verstehen. Was sie interessierte, war ihre eigene kleine Welt, ihre Familie, ihr Mann und die Kinder. Leider ließ sich beides manchmal nicht trennen. Angelika seufzte. Dann spürte sie Ernas fragenden Blick. Sie lächelte.
»Die Zeitung«, erklärte sie vage. »Da steht immer so viel drin, was man doch nicht versteht. Mich interessiert das alles nicht .«
Erna machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Seufzen und verächtlichem Grunzen klang. Sie griff
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