Katz und Maus. Rowohlt E-Book Only: Eine David Hunter Story (German Edition)
bei Fleisch in einem solchen Zustand erwartete. Doch es war noch ganz schwach ein anderer Geruch dabei, den ich nicht richtig einordnen konnte.
Das irritierte mich.
Andere Dinge auch. Aber wenigstens gab die Schnittfläche des Knochens keine Rätsel auf. Das Weichgewebe hatte sich an den durchtrennten Enden von Schienbein und Wadenbein zurückgezogen, sodass man sie deutlich erkennen konnte, schon bevor sie ordentlich gesäubert worden war.
«Definitiv eine Handsäge. Sieht auch nach einem geraden Blatt aus», sagte ich. Eine Kreissäge hätte krumme Rillen im Knochen hinterlassen, während die Riefen hier gerade waren. Und eine Motor- oder Elektrosäge hätte einen viel glatteren, fast polierten Schnitt hinterlassen statt der rauen Oberfläche, auf die wir blickten. «Möglicherweise irgendeine Holzsäge. Jedenfalls viel zu grob für eine chirurgische Amputation.»
Ich hatte die schwache Hoffnung gehabt, das Körperteil könnte aus einem Krankenhaus stammen, ein Stück Abfall, das aus dem Operationssaal geschmuggelt worden war, bevor es verbrannt werden konnte. Aber woher es auch stammte, es war offensichtlich, dass dies nicht das Werk eines Chirurgen war.
«Der Schnitt wurde vorn angesetzt, das heißt, die Leiche lag auf dem Rücken. Anscheinend waren mehrere Versuche nötig», sagte Chen, während er behutsam das Bein herumdrehte. Neben der Schnittkante sah man flache Kerben an der Vorderseite des Schienbeins. Dort hatte die Säge beim ersten Versuch nicht richtig gegriffen. «Schade, dass der Schnitt nicht am Knie erfolgte. Das Schienbein messen zu können, hätte uns das Leben erleichtert.»
Das hätte uns wenigstens eine Vorstellung von der Größe des Opfers verschafft. Anhand der langen Knochen einer Leiche lässt sich häufig die Körpergröße schätzen, aber nicht, wenn sie nur zum Teil erhalten sind. Man konnte nicht einmal sagen, ob das Opfer weiß oder schwarz war, denn durch die Verwesung dunkelte die Haut. Trotzdem hieß das nicht, dass wir gänzlich ahnungslos waren.
«Wie sieht’s mit Insekten aus?», fragte ich. Die Spurensicherer, die das Bein sichergestellt hatten, hatten keine Spuren von aasfressenden Insekten gefunden, doch falls sich welche darin eingenistet hatten, mussten sie beim Abspritzen ausgespült und aufgesammelt worden sein.
«Ein paar Schmeißfliegeneier, aber das ist alles.»
«Keine Larven oder Gehäuse?» Das war interessant. Und unerwartet angesichts des fortgeschrittenen Verfalls.
«Überhaupt keine. Aber das Bein war von einer feinen Erdschicht überzogen, selbst die Schnittstelle, es sieht also aus, als wäre es vergraben gewesen. Vielleicht hat das die Schmeißfliegen ferngehalten, jedenfalls solange es noch nicht ausgebuddelt war. Das scheint ein Tier gemacht zu haben. Hier, schauen Sie mal.»
Direkt über dem Sprunggelenk war das Gewebe von den Zähnen eines größeren Aasfressers zerfetzt und durchbohrt worden. Ein Hund oder Fuchs vielleicht. Das Tier war wohl vom Geruch angelockt worden, doch als es merkte, dass das Fleisch für seinen Geschmack schon zu verdorben war, hatte es das Interesse verloren. Wahrscheinlich fehlten deswegen zwei Zehen: Tiere machten sich gewöhnlich zuerst über die Extremitäten her.
Das erklärte aber nicht, wie das Bein in einer Tasche vor meiner Haustür landen konnte oder warum ein dermaßen vergammeltes Stück Fleisch so wenig von Insekten angegangen worden war. Fliegen waren zu dieser Jahreszeit nicht so allgegenwärtig, und es konnte sein, dass das Zerstückeln und Vergraben nachts stattgefunden hatte, wo sie meistens inaktiv sind. Dennoch konnte das Bein nicht sehr tief vergraben gewesen sein, wenn ein Tier es hatte ausbuddeln können. Schmeißfliegen krabbeln bekanntlich durch Risse und Hohlräume in der Erde, um an Leichen in flachen Gräbern heranzukommen. Und es gibt andere Arten wie etwa Buckelfliegen, die ihre Eier sogar über einen Meter tief unter der Erde ablegen, wo sie unbehelligt ausschlüpfen und ihren ganzen Lebenszyklus durchlaufen können.
Nur, wo waren sie?
«Kein Zeichen von Leichenlipid», sagte ich, während ich das Bein nach dem wachsartigen weißen Nebenprodukt der Verwesung untersuchte, das sich unter feuchten Bedingungen bildet. Aber nicht immer. «Haben Sie die Bodenproben noch?»
Dr. Chen ging zu einem Kühlschrank. «Sie haben Glück. Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie ins Labor zu schicken», sagte er und reichte mir einen Glasbehälter. Ich hielt ihn ans Licht. Die Erde darin war nahezu
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