Katz und Maus. Rowohlt E-Book Only: Eine David Hunter Story (German Edition)
üblich zu dieser Tageszeit waren recht viele Leute auf der Straße, eine ungeduldige Mutter, die ihre Kinder ins Auto scheuchte, um sie zur Schule zu fahren, und mehrere Büroangestellte, die forsch zur nahen U-Bahn-Station marschierten. Sie alle konnten die Tasche vor meiner Tür deponiert haben, aber keiner sah danach aus.
Ich überlegte mir, ob ich der jungen Mutter zurufen sollte, ob sie jemanden gesehen hatte, aber nach ihrem hektischen Gehabe zu urteilen, hätte sie höchstens eine Schießerei mitbekommen. Ein rhythmisches Klackern zog meinen Blick in die andere Richtung. Eine groteske, aber bekannte Erscheinung zog auf der Straße einen alten Einkaufskorb hinter sich her, dessen Räder über das Pflaster holperten. Die Frau war stark geschminkt und trug einen extravaganten Pelzmantel und schwarze Handschuhe. Von fern nahm sie sich wie eine Bühnengestalt aus, eine alternde Ballerina vielleicht. Doch aus der Nähe betrachtet waren Mantel und Handschuhe verschlissen und ihr Make-up so dick aufgetragen und schrundig, dass es eher einer Maske glich.
«Morgen, Eleanor», sagte ich, als sie auf meiner Höhe war.
Ich hatte nie gehört, dass jemand sie mit dem Nachnamen ansprach. Sie war eine der armen Seelen, die das Leben gelegentlich in einer Wohngegend anschwemmt, ein Gesicht, an das man sich so sehr gewöhnt, dass es ein Teil der Umwelt wird. Ich hatte sie kaum wahrgenommen, bis sie eines Tages vor mir stolperte und hinfiel. Ich half ihr auf und sammelte die alten Zeitungen ein, die von ihrem Einkaufswagen gerutscht waren. Seitdem grüßte ich sie immer, wenn unsere Wege sich kreuzten. Manchmal grüßte sie zurück, dann wieder schien sie mich gar nicht zu bemerken.
Heute war einer ihrer besseren Tage. Sie schenkte mir ein zerstreutes Lächeln. «Wissen Sie schon das Neueste?»
Es war ihr üblicher Spruch. Eleanor schien ihre Tage damit zu verbringen, weggeworfene Zeitungen und Zeitschriften zu sammeln. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit machte, aber nach dem Stapel zu urteilen, der schon in ihrem Korb steckte, hatte sie an dem Morgen frühzeitig angefangen.
«Ja, weiß ich», sagte ich.
Sie nickte, als ob wir uns über etwas Wesentliches verständigt hätten. «Die Welt ist schlecht. Regen und Schauer.»
Schon ging sie mit verschleiertem, leerem Blick an mir vorbei. Ich schaute noch einmal nach links und rechts, dann ging ich zum Haus zurück und betrachtete die Tasche. Nur ein Lausbubenstreich, dachte ich, und stupste sie mit dem Fuß an. Der kaputte Reißverschluss klaffte auf und bescherte mir einen Blick auf den Inhalt.
Erst da registrierte ich den Geruch.
Der Verwesungsgestank ist mir nicht fremd. Die biologischen Vorgänge um den Tod sind ein alltäglicher Teil meiner Arbeit und mir so vertraut wie Motoröl einem Mechaniker. Ich war nur nicht gewohnt, dass er mir auf meiner Türschwelle entgegenschlug. Zögernd musterte ich die Tasche. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sich jemand einen perfiden Scherz erlaubt und ein überfahrenes Tier oder verdorbenes Fleisch vor die nächstbeste Tür gelegt. Aber wenn nicht …
Ich ging in die Wohnung zurück zu dem Schrank, der meinen kleinen häuslichen Vorrat an Arbeitsutensilien enthielt. Einwegoveralls, Überschuhe und Schutzmasken. Und das, was ich suchte: eine Schachtel mit Nitrilhandschuhen.
Ich zog ein Paar heraus, trat wieder nach draußen und ging neben der Sporttasche in die Hocke. Der Geruch wurde stärker, sobald ich sie öffnete. Der hineingestopfte Gegenstand sah aus wie ein schmutziger Klumpen verfaulendes Fleisch, schleimig und offenbar mit Erde beschmiert. Ein Knochenstumpf war an einem Ende zu sehen, doch was mich mit Dank erfüllte, dass ich die Handschuhe angezogen hatte, war das andere Ende. Wenigstens hatte ich kein Beweisstück kontaminiert, dachte ich automatisch.
Am Boden der Tasche erkannte ich einen menschlichen Fuß.
Ich richtete mich auf und trat zurück. Wenige Meter entfernt wirkte die Straße geradezu surreal normal. Leute gingen weiter ihren Geschäften nach, in ihre eigenen Sorgen verstrickt. Bis vor wenigen Sekunden war ich einer von ihnen gewesen.
Nachdem ich die Handschuhe abgestreift hatte, griff ich zum Telefon. Ich würde meinen Termin an dem Morgen nicht einhalten können.
«Nehmen Sie sich oft Arbeit mit nach Hause, Dr. Hunter?»
Detective Inspector Sharon Ward wandte sich mir wieder zu, während ein Spurensicherer die Tasche wegbrachte. Mit ihrer verwuschelten roten Mähne, Jeans und ausgebeulter
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