Katzenhöhle
etwas, was sie sich immer geschworen hatte, nie zu tun. Sie wusste nicht einmal, warum sie das tat, denn es war bar jeden Verständnisses, jeder Achtung für die Gefühle dieses Mannes, der mehr als Tausend Kilometer weit gefahren war, um diese eine Frau zu sehen. Lilian hätte ihn nie mit diesem grausamen Anblick konfrontieren dürfen. Hier lag die Frau, die er geliebt hatte, mit zerschmettertem Schädel. Und jetzt würde er nicht einmal mehr mit ihr reden können, was immer er ihr auch hatte sagen wollen. Lilian wartete auf einen erneuten Gefühlsausbruch à la Larissa.
Doch der kam nicht.
»Vorbei«, war alles, was er schließlich sagte. »Vorbei sind alle Träume. So wie ihre Launen, ihre Selbstsucht – und ihr schrecklicher Hass.«
4
Gut, dass sie vorher im Büro angerufen hatte. So brauchte sie sich nicht zu beeilen. Sie würde noch ein wenig durch die Arkaden, das Aushängeschild der Regensburger Einkaufszentren, schlendern. Wobei diese Ladenstraßen wirklich eine Augenweide waren. Es machte ihr jedes Mal erneut irrsinnigen Spaß, sich unter dem riesigen Glasdach die Auslagen der Geschäfte anzugucken und das eine oder andere Teil zu kaufen. Sogar an den zurzeit so häufigen trüben Tagen fühlte sie sich dort wie in einem funkelnden Lichtermeer. Als glitte sie in einer Barke von Insel zu Insel. Aufgehoben, sicher und voller Erwartung, was das nächste Eiland für sie bereithalten würde. Nicht, dass Lena etwas gebraucht hätte. Pullis, Hosen, Röcke, Kleider, Schuhe – von allem hatte sie mehr als genug. Aber es war ihr wichtig, für jeden Anlass entsprechend angezogen zu sein: zu Hause, in der Arbeit, im Wald, im Tanzstudio. Genau, einen neuen Gymnastikanzug könnte sie sich gönnen. Obwohl sie auch den nicht wirklich brauchte. Aber das Einkaufen schaffte in ihr diese herrliche Illusion, am Leben teilnehmen zu können. Dazu zu gehören, zu der Welt da draußen, die sie sonst fast verbissen mied. Außerdem würde es sie ablenken.
Lena brauchte dringend Ablenkung. Sie scheute die vielen Gedanken, Eindrücke, Erinnerungen. Alles flirrte durcheinander. Auch ein Baum könnte ihr jetzt helfen. Aber dafür hatte sie nicht die richtigen Schuhe an, die hier waren zu hoch und hatten eine zu dünne Sohle. Die Bäume mussten warten. Also doch ein Einkaufsbummel.
Julian hatte sich besorgt angehört – und überrascht. Ob sie heute nicht besser den ganzen Tag frei nehmen wollte? Beim Tod der eigenen Schwester und bei einem so schrecklichen noch dazu! Und alles war erst am vergangenen Abend passiert? Wer würde da verlangen, dass sie im Büro den Routinekram erledigte? Auch das Akkreditiv für China könnte warten, da sollte sie sich mal keine Sorgen machen. Und außerdem hätte er ohnehin nicht so bald mit ihr gerechnet, da sie erst nach der Mittagspause hatte kommen wollen. Lena wusste, dass Julian, ihr Chef keine Geschwister hatte. Sein Einfühlungsvermögen erstaunte sie, berührte sie sogar. Aber so war er, voller Verständnis und Rückhalt. Obwohl er sich nicht leicht tat, sich bei den ständigen Machtspielchen in der Firma auf die richtige Seite zu schlagen und die wechselnden Ansprüche der jeweiligen Herrschaftsriege zu befriedigen. Manchmal erinnerte er sie an einen Hamster, der rennt und rennt und rennt – und der doch nie ankommt, egal wohin er will. Denn er merkt nicht, dass er im Laufrad sitzt, diesem unentrinnbaren, unerbittlichen Gefängnis.
Die Mutter hatte natürlich fast den Verstand verloren. Der arme Papa, der durfte sich jetzt mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz herumschlagen. Wo er doch selbst mehr als genug davon hatte. Aber für ihn hätte sie nie ein mitfühlendes Wort übrig gehabt. Immerhin hatte er ja noch die Lena. Aber sie, die arme Mutter – wen hatte sie? Lena musste den Papa unbedingt anrufen, später. Um den ganzen Organisationskram musste sich schließlich auch jemand kümmern: Sterbeanzeige, Sterbebild, Grabstein, Blumenschmuck, Bestattungsfeier … Was Mira wohl gefallen würde? Ob sie mit Glanz und Ruhm beerdigt werden wollte – oder eher mit Würde? Sicher mit beidem, denn sie hatte sich nie mit nur einem zufrieden gegeben. Sie hatte immer alles haben wollen – und nicht einmal das hatte ihr gereicht. Also eine Trauerfeier im großen Stil mit allen möglichen Berühmtheiten und danach eine simple Einäscherung. Oder vorher? Wie war eigentlich der Ablauf? Die Leute vom Bestattungsinstitut wussten das bestimmt, die hatten ja ständig mit so was zu tun. Lena war jetzt schon
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